Stadt, Land, Fluss

Die Stadtmenschen träumen von einem Leben auf dem Lande und die die auf dem Lande leben, drängen in die Städte. Im Jahr 2006 waren wir mit dem Magazin „Wirtschaftswoche“ für ein Interview bei dem damaligen AKP OB von Istanbul, Kadir Topbaş, der von 2004 bis 2017 diesen Posten innehatte.

Nach dem zweistündigen Interview waren wir froh, wieder an der frischen Luft zu sein. Nichts ist schlimmer als wenn einer von seinem Vorhaben, die für die Kenner der Szene nichts taugen, so überzeugt ist, dass er von nichts anderem mehr spricht. Der OB glaubte zu wissen, wie man die Zuwanderung nach Istanbul, einer fast 20 Mio. Metropole, stoppen könne.

“Wir werden das Brot für Istanbul in Anatolien kaufen und so Geld dorthin fließen lassen, damit die Menschen dort bleiben und nicht nach Istanbul kommen.” Anm.: Vielleicht die Bäcker und was ist mit dem Rest?”

Tatsächlich sprach er in den zwei Stunden von nichts anderem. Der Top-Wirtschaftsjournalist, der das Interview führte, stellte zwar viele verschiedene Fragen, aber was die Antworten anging, landete das Gespräch immer beim Brot aus Anatolien. Ich glaube, der OB sah in sich einen Kandidaten für den Nobelpreis, welcher Sparte auch immer.

Danach hat mich der Journalist zu Raki und Fisch am Bosporus eingeladen und das zu Mittag. Anders hätten wir den Frust nicht wegbekommen. Das Interview wurde übrigens nicht veröffentlicht.

Überhaupt waren die Interviews mit den Offiziellen der Türkei sehr ernüchternd. Der Minister für Industrie beklagte dauernd, dass er selber keinen Etat hätte und für Geld immer wieder den Finanzminister fragen, ja geradezu darum betteln müsse. Tja, so hat jeder seine Probleme.

Seit einigen Jahren flüchten die Menschen, die sich das leisten können und zumeist selbständig sind, aus der Großstadt in die Küstenregionen. Es gibt auch welche, die nicht mal Wasser sehen müssen und betreiben auf dem Lande in Anatolien Landwirtschaft. Der Traum von früher, ein kleines Bistro zu besitzen, war schon vor Corona-Zeiten ausgeträumt.

Für viele bleibt es nur ein Wunsch. Zumal, wenn man angestellt ist, die entsprechende Arbeitsstelle in einer kleineren Ortschaft nicht gerade auf einen wartet.

Oftmals müssen die Menschen, die sich die Mieten in der Stadt nicht leisten können, notgedrungen einen Ausweg finden, der Stadt zu entrinnen. Viele meiner Freund kommen mit weitaus weniger Geld aus und sind glücklich geworden auf dem Land.

Der Staat hat viele Fördermittel und Subventionen für die Agrarwirtschaft. Ein Stadtmensch versteht zwar weniger von der Agrarwirtschaft, über die er sich das Wissen erst aneignen muss, kommt aber gedanklich viel besser klar, was die Fördermaßnahmen angeht und setzt außerdem die neuesten Verfahren ein.

Die Finanzmittel werden effektiver für das Vorhaben eingesetzt, als bei den Bauern, die zwar seit Generationen den Boden verarbeiten, aber kein Überblick über das Finanzielle haben. So ist der Trend immer noch so, dass die Menschen vom Lande sich in den Städten etwas erhoffen. Geregeltes Arbeitsverhältnis und feste Zeiten, Versichertsein, bessere Ausbildung für die Kinder und überhaupt.

Ist es nicht so, dass man sich in der Ferne immer etwas besseres erhofft, als das, was man zu Hause vorfindet?

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