Der Brief kam drei Tage später und schon musste die Grenze neu gezogen werden

1972, vor der Abreise, zum längsten Aufentahlt, mit Großvater Prof. Hayri Dener und meinem zwei Jahre jüngerem Bruder Memo.

Meinen Großvater gab es nur in Anzug und Krawatte. Wenn er sich mal leger geben wollte, nahm er die Krawatte ab, aber mehr war nicht drin. Ich erwähne das nur, damit man sich eine Vorstellung von ihm macht. Wer einen guten Charakter hat, braucht keine Prinzipien, heißt es, nur bei ihm konnte ich beides kaum unterscheiden. Er funktionierte wie ein Uhrwerk. Zu seiner Zeit war er bestimmt einer der bekanntesten Persönlichkeiten in der Türkei. Als Professor für angewandte Physik hatte er im Bildungswesen der Türkei richtig was bewegt und die Richtung vorgegeben. Wer nicht aus seinen Lehrbüchern gelernt hatte, zu seinen besten Zeiten hatte er daran 70% Marktanteil, so waren sie seine Studenten. Kaum einer der politischen Größen im Land, die nicht auf ihn heraufblickten. Alle waren sie seine Schüler gewesen. Er wusste um seine Macht im Lande, ohne diese zu missbrauchen. Kamen wir aus Deutschland zu den Sommerferien, holte er uns fast immer vom Flughafen ab, aber aus sicherer Entfernung beobachtend. Zu Zeiten, wo er Senator für Bildung war (damals noch vom Staatspräsidenten ernannt), hätte er uns an der Passkontrolle, oder beim Zoll nur vorbeiwinken brauchen, aber nein, alles sollte korrekt ablaufen, deshalb die Entfernung, damit die Beamten nicht unter Druck geraten und uns besonders zuvorkommend behandeln.

Wie er agierte, wenn er Dinge nach seinen Vorstellungen geradebog, erlebte ich mit ca. 12 Jahren. Wir machten in seinem Sommerhaus in Suadiye-Istanbul Urlaub. Die Unis hatten gerade mal eine Woche Sommerferien. Er erwartete Post von der Uni (Ankara Universitesi), irgendwelche Unterlagen, die er als Rektor zum Abschluss des Semesters jedes Jahr zugeschickt bekam. „Halte Ausschau nach dem Briefträger bitte, ich erwarte Post.“ sagte er zu mir. Als ich den Briefträger aus der Entfernung sah, informierte ich ihn. Haus für Haus kam er immer näher, nur leider bis zum Nachbarhaus. Dann war er fertig mit der Arbeit. Mein Großvater fragte ihn, warum er denn die Post nicht weiter verteilte. „Hier ist die Ortsgrenze, Sie fallen nicht in meinen Zuständigkeitsbereich!“ sagte der Briefträger. Mein Großvater fragte sich, ob es besser wäre, von diesem Briefträger bedient zu werden, zumal man ihn viel öfter zu Gesicht bekam als unseren. Sofort griff mein Großvater zum Telefon und bat meinen letzte Woche an COVID-19 verstorbenen Onkel, zwei leere Umschläge abzuschicken. Einen davon an meinen Großvater adressiert, den anderen an unseren Nachbarn, der sofort informiert wurde, dass er einen leeren Umschlag zu Testzwecken aus Ankara bekommen würde. Tatsächlich hielt der Nachbar den Umschlag drei Tage eher in der Hand als mein Großvater. Die Sache war glasklar: Systemfehler!

Sofort machten wir uns mit meinem Großvater auf dem Weg zum zuständigen Postamt und machten klar, dass bei denen was nicht rund lief. Der Vorsteher wurde so klein, dass man sich nicht einmal vorstellen kann, wie klein und versprach Besserung.

Schon waren wieder zwei leere Umschläge unterwegs und siehe da, es wurde nicht besser. So konnte es nicht weitergehen. Dieses Mal waren die Ortsvorsteher dran. Die Ortsvorsteher von Bostanci und Suadiye wurden zusammengerufen. Die Ortsgrenze sollte anders gezogen werden. Nicht der linke Zaun zur Straße hin, sondern der rechte Zaun von Haus meines Großvaters sollte die Ortsgrenze bilden. Noch ein Telefonat mit dem  Oberbürgermeister und schon fand die Sache für meinen Großvater einen versöhnlichen Abschluss. Jetzt wollt Ihr sicher noch wissen, wie oft mein Großvater im Sommer Post bekam. Einmal, nur dieser eine Umschlag von der Uni. Der nächste Sommer könnte  also kommen.

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