Türkei: Wie bewertet man die Leistung eines Politikers?

Ich denke, das ist in jedem Land anders. Auch leben wir im Internetzeitalter, in dem die Empfindungen und Erkenntnisse zur Meinungsbildung andere sind, als in der Zeit davor.

Dass z. B. eine Person wie Helmut Schmidt, der auch nach seiner Politikerlaufbahn Zeichen setzte, zu den Ausnahmen zu zählen sind, ist unzweifelhaft Fakt. Dass es aber vom Kaliber eines Helmut Schmidts, einige mehr gab früher, deren Wort Gewicht hatte, aber auch Hand und Fuß, stimmt auch.

Es kann spekuliert werden, wie der große Willy Brandt, ‚Good old Willy‘ bei all seinen Affären im Internetzeitalter wegkommen würde. Ob er das Ansehen genießen würde, dass ihm zu seinen Lebzeiten und darüber hinaus zuteilwurde, wissen wir nicht und werden wir niemals wissen. „Schwein gehabt Willy!“

Kommen wir von den deutschen Politikern und Gallionsfiguren weg und schauen wir in die Türkei. Dort sind die Bewertungskriterien für Politiker, ob sie gut oder schlecht sind, andere. Ein Politiker ist in der Volksmeinung gut, wenn er Anstand besitzt und nicht korrupt ist. Jetzt werdet Ihr wissen wollen, warum dann der Prächtige noch an der Macht ist. Stockholm-Syndrom sage ich da nur.

Eigentlich müsste ich in der Vergangenheit schreiben, denn solche Politiker gibt es in der Türkei nicht mehr. Der Anstand ist den türkischen Politikern gänzlich abhandengekommen. Erdogan war für viele ein schlechtes Beispiel. Seine hässliche Art und Wortwahl haben sogar auf die Bevölkerung abgefärbt.

Der Filzhut war sein Markenzeichen. Auf allen Fotos und Karikaturen zu sehen. (ja, damals durfte man in der Türkei sich noch lustig machen über die Staatsoberhäupter).

Es gibt viele andere Beispiele, aber ich möchte mal den früheren türkischen Ministerpräsidenten und späteren Präsidenten Süleyman Demirel rauspicken. Er hatte zwar Bauingenieur gelernt, war aber zum Politiker geboren worden. Was anderes hätte er nicht werden können. Ich habe ihn herausgepickt, weil wir auch familiär verbandelt waren. Demirel war als junger Kerl auf der Uni einer der Studenten meines Großvaters.

Schon damals muss er sich so angestellt haben, dass wohl mein Opa immer gesagt haben soll, dass aus ihm ein wichtiger türkischer Politiker werden würde. Ich muss hierbei erwähnen, dass er für die Türkei nichts Nennenswertes bewegt hat in der langen Zeit. Eigentlich war er Zeit seines Lebens (sieben Mal Premierminister des Landes und einmal Präsident) Politiker gewesen.

Das soll aber nicht als Negativum rüberkommen und speziell auf ihn umgemünzt werden. Er war wie alle türkischen Politiker nach Atatürk und Inönü, die nichts für die Türkei bewegt haben, was später einmal in den Geschichtsbüchern erwähnt werden würde. Der Mann besaß Anstand und war ein Mann von Welt. Er sprach sehr gut Englisch und konnte so, ohne die Verfälschung durch einen Dolmetscher, seine Meinung gegenüber ausländischen Führern eins zu eins kundtun. Sein Englisch und Geist reichten für wesentlich mehr als ein Satz wie “One Minute!” (Ausgesprochen während des World Enonomic Forums in 2009 von Erdogan).

Er war ein Guter, denn korrupt war er nicht. Dafür waren seine Familienangehörigen zuständig, die im Hintergrund kräftig mitmischten und sich Reichtümer anhäuften. Natürlich für die damaligen Verhältnisse. Das was mit der Türkei in der Ära Erdogan passierte und passiert, wird wohl einmalig bleiben – zumal auch (fast) nichts mehr zu holen ist, was einen Wert darstellt.

Er hat alles, was in der Türkei einen Wert darstellte, samt Anstand, pulverisiert. All die, die unter dem Deckmantel des politischen Islams auch vor ihm an der Macht waren oder die Macht auch nur schrammten, sind heute Dollar-Milliardäre, deren Reichtum buchhalterisch nicht erfasst ist. Alle zusammen sind aber nicht annähernd so reich, wie der Erdogan-Clan und seine Seilschaften.

Das was er mit der türkischen Wirtschaft und türkischen Werten gemacht hat – nämlich an die Multis dieser Welt verkauft, macht er auch mit der Bevölkerung. Den Bildungsschalter dreht er immer tiefer. Immer mehr religiöse Schulen sollen für immer mehr Verdummung sorgen. Das Land ist schon auf höchster Stufe importabhängig und könnte ohne diese Importe nicht existieren. Wir sprechen hier von einem Land, welches mal ein ‚fast‘ Selbstversorger war, wenn es um Agrarprodukte ging.

Das alles mag in der Summe der Grund sein, dass die Schulfächer in den Schulen immer weniger werden. Da in den Geschichtsbüchern der Schwerpunkt auf dem Osmanischen Reicht liegt, welches erbärmlich zugrunde ging, aber in den Geschichtsbüchern sehr positiv dargestellt wird, kann man bald gänzlich auf die Geschichte verzichten. Atatürk möchte man nicht erwähnen, danach würde einem nur Erdogan einfallen, der das Land zugrunde gerichtet hat.

Also verzichten wir auf das Fach Geschichte und nehmen stattdessen „Glanz & Glamour in der Welt der Schönen und Reichen“. Das kommt nämlich bei den Ärmsten, die aus dem letzten Loch pfeifen, am besten an.

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