Die türkische Kontroverse um syrische Flüchtlinge

Die Haltung der türkischen Bevölkerung zu den syrischen Flüchtlingen im Lande hat sich mit den Jahren drastisch zum Negativen verändert. Eine differenzierte Diskussion in der türkischen Öffentlichkeit wird durch die Intransparenz der Regierungspolitik zusätzlich erschwert.

Mein Freund Ertugrul Uzun aus Berlin, Politikwissenschaftler, hat hier Daten und Fakten zusammengetragen und wie ich finde, die Situation hervorragend durchleuchtet.

> BASISDATEN

Die Türkei hat 3,5 Millionen Flüchtlinge aus dem bürgerkriegsgeplagten Syrien aufgenommen. Nur 0,3 Millionen sind inzwischen wieder in ihre Heimat zurückgekehrt (exakt 329.212).

3,2 Millionen sind geblieben. So denn kamen seit 2011 in Anatolien 0,41 Millionen syrische Babys zur Welt (exakt 405.521).

Per 06 / 2019 zählt die Türkei 3,61 Millionen offiziell registrierte syrische Staatsbürger (exakt 3.613.644).

97% dieser (3.504.382) wohnt in türkischen Städten. Nur mehr 3% der Syrer (109.262) lebt noch in Flüchtlingslagern.

Ferner halten sich mehrere Hunderttausend Syrer illegal in der Türkei auf.

> DEMOGRAPHIE

Man würde annehmen, dass Frauen, Kinder und Alte, als die vom Krieg am härtesten betroffenen Gruppen, den Hauptteil der Flüchtlingspopulation ausmachen.

Dem ist nicht so:

54% der Flüchtlinge sind Männer. Es leben 300.000 mehr Syrer männlichen als weiblichen Geschlechts in der Türkei.

Nur 7% der Flüchtlinge ist über 50 Jahre alt.

Waffenfähige Männer (16 – 44 Jahre) stellen mit 30% die größte Gruppe.

> PROJEKTIONEN

Das Durchschnittsalter in der Türkei ist 32 Jahre. Die syrischen Flüchtlinge sind im Schnitt 22 Jahre alt.

Ihre Geburtenrate liegt beim doppelten des türkischen Wertes. Täglich werden 300 syrische Babys geboren.

Wenn eine Rückführung der Flüchtlinge unterbleibt, wird die Zahl der Syrer in 10 Jahren 5 Millionen, ihr Bevölkerungsanteil 6% erreichen – bei einer Gesamtpopulation von dann 87 Millionen.

> AKTUELLER STAND

Ein Großteil der in die Türkei geflüchteten Männer wollte der Rekrutierung durch die syrische Armee bzw. Rebellenverbände entgehen. Viele haben Eltern und Frauen in Syrien.

So denn gibt es unter den syrischen Männern viele, die für extremistische Gruppen gekämpft haben und es noch tun. Nicht wenige waren in Greuel verwickelt.

Dem Gros der Flüchtlinge droht in Syrien keine Gefahr mehr für Leib und Leben. An islamischen Feiertagen besuchen Hunderttausende ihre Heimatorte.

Die Rückkehrbereitschaft ist jedoch gering, da die Lage in Syrien weiterhin instabil ist und sich viele inzwischen in der Türkei gut eingerichtet haben.

> EINSTELLUNGEN ZU SYRERN

Das türkische Volk empfing die Syrer mit offenen Armen.

Die Bilder von den zerbombten Städten und toten Zivilisten hatten Empörung und Empathie ausgelöst.

Eine Welle der Solidarität ging durchs Land. Bürger und NGO’s leisteten engagiert Hilfe.

Wer heute türkische Medien verfolgt und auf Social Media unterwegs ist, stellt fest:

Die Stimmung ist gekippt. Ablehnung ist heute die vorherrschende Haltung gegenüber Syrern.

Bürger aller Coleur äußern Unmut über die Flüchtlingspolitik Ankaras. Kritik kommt von allen politischen Lagern.

Einzig die AKP-Nomenklatura begrüßt noch die Präsenz der Syrer im Lande.

Dass sich die AKP in dieser Frage von ihrer Basis entfremdet hat, dürfte zu ihrem Debakel bei den jüngsten Wahlen beigetragen haben.

> UNMUTSÄUSSERUNGEN

Eine klare Zuordnung der Unmutsäußerungen fällt nicht immer leicht.

Manches entspringt objektiven Fehlentwicklungen, manches spiegelt begründete, manches irrationale Ängste wider.

Aus so mancher Kritik spricht Unkenntnis über die Verhältnisse in Syrien.

Auch gibt es gesteuerte Hetze, der viele Bürger aufsitzen.

> MOTIVE DER ABLEHNUNG

Beim Sichten der Äußerungen stieß ich auf folgende, wiederkehrende Motive

1
Überfremdung

2
Übervorteilung

3
Gewaltneigung der Syrer

4
Junge syrische Männer

5
Inkompatibilität

6
Mißtrauen gegenüber Ankara

Vieles davon scheint aus Deutschland vertraut zu sein. Die Beweggründe für Ressentiments in der Türkei unterscheiden sich jedoch zum Teil deutlich von denen in Deutschland.

1 – ÜBERFREMDUNG

Anders als in Deutschland, wurde die Ansiedlung der Syrer nicht von Anbeginn zentral gesteuert.

Den Flüchtlingen stand es frei, nach eigenem Ermessen einen Wohnort in der Türkei zu wählen.

Das hat zu einer Massierung von Syrern in einigen Regionen geführt.

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Grenznahe Gebiete 
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Der syrische Bevölkerungsanteil beträgt heute in den Provinzen

HATAY 27%

GAZİANTEP 22%

ŞANLIURFA 22%

MARDİN 11%

ADANA 11%

MERSİN 11%

K.MARAŞ 8%

Wir haben es folglich mit anderen Dimensionen zutun, als in Deutschland.

Dass Überfremdungsängste im türkischen Fall eine objektive Basis haben, ergibt sich nicht allein hieraus.

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Gleichgewichte
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In Hatay, Antep, Maraş sind tradierte ethnisch-konfessionelle Gleichgewichte aus den Fugen geraten.

Hier leben seit eher mehrheitlich Türken, hiernach Kurden und Araber, und zwar sunnitischer, alevitischer und alawitischer (Nusayri) Konfessionen.

Urplötzlich, binnen weniger Jahre, ließ sich in diesen Provinzen eine immense Zahl sunnitischer Araber nieder.

Türken wie Kurden, Aleviten wie Nusayri sehen sich bedrängt.

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Metropolen 
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Ebensowenig lässt sich der syrische Anteil in den türkischen Metropolen als marginal abtun:

BURSA 6%

KAYSERİ 6%

KONYA 5%

ISTANBUL 4%

IZMIR 3%

In diesen Städten gibt es nunmehr Ortsteile, in denen ausschließlich Arabisch gesprochen wird.

Glaubt man den Aussagen der Einheimischen, so kommt es zur Verdrängung der türkischen Einwohner, sobald sich eine kritische Masse von Syrern in einem Viertel festsetzt.

Mieten schießen in die Höhe, türkische Familien ziehen weg. Die Zugezogenen kaufen nur in syrischen Läden ein, türkische Gewerbetreibende verlassen die Gegend.

So kommt es vor allem in Istanbul zu ethnisch homogenen Ghettobildungen.

Hört sich an wie Berlin Kreuzberg? Nein, kein Vergleich!

In Kreuzberg prägen Türken zwar das Straßenbild, die Zusammensetzung der Bevölkerung ist aber multikulturell und Deutsche stellen die größte Gruppe.

2 – ÜBERVORTEILUNG

Ein wiederkehrendes Motiv der Ablehnung sind vermeintliche oder tatsächliche Privilegien, die die Flüchtlinge genießen.

Richtig ist, dass Syrer gleichberechtigten Zugang zu Leistungen bei Gesundheit, Bildung und Sozialhilfe haben.

Das ist einem modernen Staat angemessen und sollte an sich kein Problem sein.

Nun ist es aber so, dass bis zu 30% der Haushalte in der Türkei am Rande des Existenzminimums oder unter diesem vegetieren.

Die Bürger bringen daher kein Verständnis dafür auf, dass der Staat allein bis jetzt 40 Milliarden Dollar für die Flüchtlinge aufgewandt hat.

Der Staat kommt für die Stromkosten der syrischen Haushalte auf und zahlt diesen monatlich ein bescheidenes Hilfsgeld.

Die Begründung hierfür ist, das Syrer keine Arbeit aufnehmen dürfen. In der Tat haben nur 32.000 Syrer eine Arbeitserlaubnis.

De facto geht ein Vielfaches von ihnen einer Arbeit nach. Der Staat toleriert ihre illegale Beschäftigung.

In der Türkei beträgt die Arbeitslosigkeit 17%, die der Jugend sogar 25%.

Syrer verdingen sich zu weit niedrigeren Löhnen als die Einheimischen. Folglich entgehen Türken ohnehin knappe Arbeitsplätze.

Doch damit nicht genug, das Lohnniveau im Land wird insgesamt nach unten gedrückt. Eine Minderheit von türkischen Unternehmern profitiert, die Masse der türkischen Jugend und Arbeitnehmer leidet.

Syrischen Studenten an türkischen Universitäten steht ein Stipendium von 1200 Lira monatlich zu. 85% davon finanziert die EU, für 15% kommt der türkische Staat, ergo Steuerzahler auf.

Türkischen Studenten bleiben Hilfen in analoger Höhe versagt.

3 – GEWALT

Weltweit findet Gewalt durch Angehörige von Minoritäten besondere Beachtung, so auch in der Türkei.

Im Wochentakt berichten Medien über gewalttätige Syrer. Das von deutschen Medien gepflegte Bild des messerstechenden Syrers, findet sich auch hier.

Gemäß staatlicher Stellen ist Kriminalität unter Syrern nicht mehr verbreitet, als unter Türken. Diesen Verlautbarungen schenke ich Glauben.

Zugleich drängt sich bei mir der Eindruck auf, dass während manche Kreise sporadische Konflikte aufblähen, die Regierung und AKP-Medien diese bagatellisieren.

Es gibt Probleme, die nicht verschwinden, wenn der Staat diese ignoriert:

Nicht wenige syrische Männer waren oder sind in militanten paramilitärischen Gruppen aktiv, mit der Folge ihrer hochgradigen Verrohung. Viele sind, infolge ihrer Kriegserlebnisse, psychisch gestört.

Streitigkeiten zwischen Syrern und Einheimischen arten regelmäßig zu Massenschlägereien aus, die interkommunalen Konflikten ähneln.

Wenn Provokateure ein leichtes Spiel haben können, dann weist das auf tiefergehendere Spannungen hin.

4 – JUNGE SYRISCHE MÄNNER

Tiefbewegt von den Bildern ausgemergelter Kinder und mißhandelter Frauen, hatte das türkische Volk die Syrer willkommen geheißen.

Im Straßenbild türkischer Städte aber stechen heute wohlgenährte junge syrische Männer hervor.

“Warum füttern wir die durch, wo es uns am Nötigsten fehlt” ist das Empfinden vieler Türken.

Hunderttausende ledige, “herumlaufende” Männer stellen für türkische Eltern, die um das Wohl und den Anstand ihrer Töchter besorgt sind, ein großes Problem dar.

Ein rotes Tuch für die türkische Öffentlichkeit sind junge Syrer, die in Cafes, an Stränden Sisha rauchen, “wo doch unsere Jungs bei Einsätzen in Syrien ihr Leben opfern”.

Das vom Ethos des nationalen Freiheitskrieges unter Atatürk geprägte türkische Volk, hat nur Verachtung für diese jungen Männer übrig.

Doch:

Dem syrischen Volk fehlt eine geeinte nationale Opposition unter einer allseits anerkannten Führungsfigur.

Bei welcher Gruppe, unter welcher Flagge, für welches Ziel sollen die jungen syrischen Männer ihr Leben opfern?

5 – INKOMPATIBILITÄT

Grundsätzlich stellt sich Frage der Kompatibilität der syrischen Einwanderer mit der türkischen Gesellschaft.

Dispositionen und kollektive Erfahrungen unterscheiden sich ganz wesentlich:

A
Fundamentalistische Auffassungen des Islam sind unter syrischen Sunniten mehr verbreitet als unter sunnitischen Türken.

B
Die Baath-Diktatur ging mit Gewalt gegen islamistische Strömungen vor. Diese mussten im Untergrund agieren und haben sich so stark radikalisiert.

Die laizistische Türkei hat islamistische Bewegungen bisweilen unterdrückt. Im großen und ganzen aber, hat das pluralistische System der Türkei islamistischen Strömungen und Parteien gewisse Freiräume sowie Teilhabe am demokratischen Wettbewerb eröffnet.

Die Einbindung der Islamisten in die politischen Prozesse wirkte mäßigend auf diese.

Es ist kein Zufall, dass kein einziger Türkischstämmiger in die Terroranschläge der letzten Jahre in Europa involviert war.

C
Auch wenn die Staatsgewalt in der Türkei bisweilen repressiv war, hat ihre demokratische Ableitung und, über weite Strecken, rechtsstaatliche Ausübung, ihre Akzeptanz beim Volk sichergestellt.

Der Zentralstaat und das Gewaltmonopol des Staates genießen in den Augen des türkischen Volkes Legitimität.

Vor allem für sunnitische Syrer gilt, dass sie aufgrund ihrer negativen Erfahrungen mit dem Staat, das staatliche Gewaltmonopol nicht verinnerlicht haben.

D
Die Türkei ist das einzige islamische Land im Nahen Osten, das erfolgreich Nationbuilding betrieben hat.

Nur im mehrheitlich von Kurden bewohnten Südosten haben Stammesloyalitäten Vorrang. Überall sonst in der Türkei gilt die Loyalität des Volkes zuerst dem Nationalstaat.

Bei Syrern überlagern Loyalitäten zum Clan, zur konfessionellen Gruppe die zum Nationalstaat.

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Folgerungen 
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Die Voraussetzungen für die Einbindung der Syrer in das politisch-staatliche Gemeinwesen der Türkei sind also denkbar schlecht.

Den Flüchtlingen müsste im Rahmen einer umfassenden, langatmigen Integrationspolitik, auch systematisch staatsbürgerliches Bewusstsein, Respekt vor dem türkischen Staat und seinen Organen eingeimpft werden.

Ansonsten wird es in vielen Vierteln türkischer Metropolen zu Verhältnissen kommen, wie wir es von der Sonnenallee in Berlin Neukölln kennen.

Die AKP-Regierung ist aber nicht einmal darum bemüht, den Zugewanderten die türkische Sprache beizubringen.

AKP-Entscheider zaudern ja selber mit den republikanischen Werten der Türkei, zeigen keine Wertschätzung für den türkischen Nationalstaat und sind nicht Champions in Sachen Rechtsstaatlichkeit.

6 – MISSTRAUEN GEGENÜBER ANKARA

Das Mißtrauen der türkischen Öffentlichkeit gegenüber dem Regierungshandeln in Ankara befördert wiederum Mißtrauen gegenüber den syrischen Flüchtlingen.

A
AKP-Mandatsträger führen weniger humanitäre Gründe als “islamische Solidarität” als Motiv für die Aufnahme der syrischen Flüchtlinge an.

B
Es sieht nicht danach aus, dass die Regierung als Langfristigziel die Rückführung der Syrer avisiert.

AKP-Minister haben wiederholt verlautbart, “man wolle die Syrer dabehalten, sogar wenn diese zurückkehren wollten”.

Erst jüngst, wohl unter dem Eindruck der verlorenen Kommunalwahlen, scheint ein Umdenken innerhalb der AKP stattzufinden.

C
Dass die Regierung eine massive Ansiedlung von Syrern in ethnisch-konfessionell fragilen Regionen zuließ, ja beförderte, deuten nicht wenige Beobachter so, dass die AKP mithilfe der Flüchtlinge Social Engineering betreiben möchte.

D
Damit geht der Verdacht einher, dass sich die AKP eine treue Wählergruppe heranzieht.

E
Das Mißtrauen gegen die AKP-Politik wird dadurch befördert, dass diese über Jahre radikalislamistische Gruppen in Syrien protegiert hat.

F
Dass es der Regierung nicht um die Betroffenen, schon gar nicht um die Interessen der Türkei und ihrer Bevölkerung geht, diese vielmehr eine ideologische Agenda verfolgt, ist eine weit verbreitete Ansicht.

Last-but-not-the-least:

AKP-Verantwortliche reden die Probleme, die sich aus der Präsenz von Millionen Syrern ergeben klein, greifen den Unmut der Bürger nicht auf und entwickeln keine adäquaten Lösungen.

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