Wie schön Istanbul ist, ist Ausländern eher bewusst.

Der frühe Vogel fängt… Nein, der Türke ist nicht scharf auf die Maus. Bis zur letzten Sekunde schlafen und dann im Stau stehen, heißt die Devise. Nicht, dass sie Schlaf so sehr mögen, das vielleicht auch, aber sie gehen wegen TV und Klatsch, zu spät ins Bett und verzichten darauf, dem Stau, die allmorgendlich in Istanbul auf sie wartet, zu entweichen. Am Abend zuvor, ein Tee und noch ein Tee, bis dann einem einfällt, dass ja morgen ein Arbeitstag ist.

Kurz vor sieben Uhr staut es auf der Bosporus-Brücke und der Rückstau kann 10-20 km lang werden. Statt etwas früher aufzustehen und schnell auf die europäische Seite zu fahren, bleibt man solange im Bett, dass man zwangsläufig in den Stau fährt.

Da die meisten Arbeitsplätze in Istanbul, immer noch auf der europäischen Seite sind, ist der Verkehr Richtung europäische Seite richtig zäh.

Als ich mein Istanbuler-Büro auf der europäischen Seite hatte und auf der asiatischen Seite wohnte, dachte ich laut und Deutsch. Aus Deutschland sind wir es gewohnt, früh aufzustehen. Was steht dem entgegen, dass wir um 6 Uhr auf die andere Seite fahren, dort Richtung Ortaköy, und es uns bei Tee, Kaffee und Simit (Sesamringe) in einem der Teegärten oder Lokale am Bosporus gemütlich machen? Die im Stau stehenden auf der Bosporus-Brücke beobachtend, den Sonnenaufgang und den Bosporus genießen und uns für den Tag Kraft tanken? Nichts! Gesagt, getan.

Der, der am entferntesten wohnte, sammelte mich und zwei andere, auf dem Weg zur Bosporus-Brücke ein und so machten wir es uns in Ortaköy, gemütlich. Das nahm Formen an, dass wir uns auf den Morgen wie kleine Kinder freuten. Bei Bekannten und Freunden hatte sich das rumgesprochen und immer mehr folgten unserem Beispiel. Was soll ich sagen, nach drei Monaten waren wir über zwanzig Personen, die sich jeden Morgen in Ortaköy trafen und den Morgen genossen. Eigentlich war es jetzt immer noch schön, aber anders halt.

Die große Gruppe brachte es mit sich, dass man über die Politik, sonstigem Tagesgeschehen sprach und sich Witze erzählte. Die nächste Stufe wäre eigentlich, dass wir unsere Büros nach Ortaköy verlagerten. Ein Kunde von mir, ein Top-Gastronom aus Deutschland, sagte mal: „Wenn du den Bosporus in dein Gastro-Konzept mit einbaust, schaffst du ein Alleinstellungmerkmal, das man nirgends kopieren kann. Es ist zu schön hier.“

Der Istanbuler weiß um die Schönheit und Einmaligkeit seiner Stadt, aber das nur vom Hörensagen. Der Überlebenskampf macht sie blind für die Schönheiten. Die Stadt, die Atmosphäre, die Schönheiten zu inhalieren, zu registrieren und auszukosten, das bleibt den Auswärtigen vorbehalten. Ich liebe meine Geburtsstadt Istanbul, mal schauen, wann ich wieder mal dahin darf.

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