Meine Kolumne aus dem Tagesspiegel: Staunen über das Fremde

Die eine Maschine fliegt deutsche Touristen an die türkische Küste. Die andere Maschine fliegt türkische Touristen nach Deutschland. Beide Maschinen werden in Kürze landen. Die Menschen schauen von oben. Die Deutschen sagen: „Schau, wie schön blau das Meer ist.“ Die türkischen Touristen sagen: „Schau, wie schön grün die Wälder sind.“

Urlauber reisen wegen Grün und Blau durch die Welt. Kommt der türkische Tourist in Deutschland an, registriert er augenblicklich, wie ordentlich es in Deutschland zugeht. Ich holte einen Freund vom Frankfurter Flughafen ab. Wir fuhren auf die Autobahn. Auf unserer Spur gab es einen Stau und er fragte mich, warum ich nicht auf die linke Spur ausweiche. Ich sagte: „Der durchgezogenen Linie wegen.“

„Warum? Das ist doch keine Mauer“, sagte er. „Doch, in Deutschland ist das eine auf dem Boden gezeichnete Mauer“, antwortete ich. Später zeigte er auf die Standspur. „Bei uns in der Türkei wäre die Standspur ebenfalls voll mit Autos und außerdem, zwei Fahrspuren und die Standspur, da passen locker fünf Autos nebeneinander“. Er schlug mir vor: „Überhol doch wenigstens den einen vor uns, über die Standspur, schau mal, wie viel Abstand er zu seinem Vordermann hält, da passen locker zehn Autos dazwischen.“ Ich zeigte auf den Streifen am Boden: „Siehst du nicht, dass der Streifen zur Standspur hin durchgezogen ist und die Linie noch dicker ist als zur linken? Außerdem ist das verboten.“

„Du meinst, die Mauer zu unserer Rechten ist dicker als die zu unseren Linken?“ „Siehst du, wir verstehen uns, jetzt bist du in Deutschland angekommen.“ Während des Abendessens in einem Steakrestaurant fragte er mich, ob wir irgendwo anders Kaffee trinken sollten, bei einem Stück Kuchen. „Kuchen findest du um die Zeit nicht“, sagte ich.

Dazu muss man wissen, dass in der Türkei auf jeder Hauptstraße mehrere Patisserien existieren, die meist bis nach Mitternacht geöffnet haben. Ich fuhr ihn in sein Hotel. „Wo sind die Menschen?“, fragte er. „Die schlafen, schließlich müssen sie morgen arbeiten.“ Er wurde stiller.

Am nächsten Morgen holte ich ihn von seinem Hotel ab und wir fuhren durch die Dörfer in die Stadt. „Wo sind die Menschen?“ „Die sind arbeiten“ sagte ich. „In Deutschland wird also nur geschlafen und gearbeitet“, dachte er laut. „Arbeiten schon, aber nur 35 Stunden in der Woche.“ „Was, so wenig?“

Ich denke, er freut sich schon auf seine Rückkehr.

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