Die Zukunft der türkischen Jugend liegt in Europa

jugendIch erinnere mich in diesen Tagen gerne an das Gespräch mit meinem Vater, kurz nachdem ich von meinem Auslandssemester aus der Türkei nach Deutschland zurückgekehrt bin. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Entschluss gefasst, nach meinem Studium nach Istanbul zu ziehen. “Deine Zukunft liegt in Europa”, sagte mein Vater energisch.

Er brachte damit zum Ausdruck, dass er meine Entscheidung nicht unterstützen werde. Er ermahnte mich, dass in der Türkei Bürger- und Menschenrechte verletzt werden. “Wir alle wissen nicht, wohin die Türkei steuert”, schimpfte er noch vor über einem Jahr. Auch mein Onkel Muzzafer, der in Izmir geboren, zum Studium nach Berlin gekommen ist und heute in der Hauptstadt als IT-Experte arbeitet, verneinte meine Frage, ob er sich vorstellen könnte, in der Türkei zu arbeiten. “Da herrscht ein anderes Arbeitsleben als in Deutschland, keine Struktur, keine Disziplin, für mich ist das nichts.”

Diese Ermahnungen haben mich nicht davon abgehalten, nach Istanbul zu ziehen. Man nennt Menschen wie mich gerne “Rückkehrer”. Ich bin aber nicht zurückgekehrt in die Türkei, denn ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen.

Kulturschock Türkei

Die Türkei ist die Heimat meiner Eltern, aber sie war mir doch recht fremd. Mehrere Kulturschocks hatte ich bereits während meines Auslandsstudiums erleben dürfen: Tabuisierung von Sex unter jungen Menschen, insbesondere Frauen, obwohl sie Sex praktizieren. Die zentrale Rolle von Religion im Alltag, wo sie sogar bei politisch säkularen Türken in ihrem Alltag eine begleitende Rolle spielt. Die Beziehung zwischen Frauen und Männern ist angespannter, als wir es in Deutschland kennen.

Was aber war meine Motivation, mein Leben in Deutschland aufzugeben für ein Leben in der Metropole Istanbul? Warum wollte ich “auswandern”? Es war nicht das Wetter oder die warmherzigen Menschen, die ich in Deutschland manchmal vermisste. Dann hätte ich genauso gut nach Spanien auswandern können. Nein, es war die Sehnsucht nach der Heimat meiner Eltern.

Die Neugier, welches Leben mich in der Türkei erwartet hätte, wenn ich dort geboren und aufgewachsen wäre. Das Leben in der Türkei hat mir das gezeigt, was ich bereits aus der türkischen Kultur in Deutschland kannte und auch auf meinen jährlichen Urlaubsreisen in der Türkei erlebte: Türken legen Wert auf soziale Kontakte. Während Deutsche distanziert sind und individuell leben, sprechen Türken gerne fremde Menschen an und fühlen sich in Gemeinschaften wohl.

Auf die deutsche Art

Die Türkei ist in dieser Hinsicht für mich als junger Mensch besonders attraktiv. Ich finde das tägliche Gespräch mit fremden Menschen schön und bin gerne mit vielen jungen Menschen zusammen, die konsumieren, essen und trinken und das Leben genießen.

Was mich aber auch in die Türkei gezogen hat, war das Gefühl zu erleben, dass Menschen positiv auf meine Herkunft reagieren. Die Türken haben eine Zuneigung gegenüber Deutschland. Viele junge Menschen lernen und sprechen Deutsch, wollen in Deutschland studieren. Sie schätzen die deutsche Art, direkt und aufrichtig seine Meinung zu sagen oder getrennt Rechnungen zu bezahlen. “Alman üsulu” (“Auf die deutsche Art”) nennt man das in Restaurants. Ich fühle mich hier in der Türkei sehr wohl als Deutsche.

In der Türkei habe ich mich besser verstanden gefühlt. Die traditionellen Werte meiner Familie brauchten keiner Rechtfertigung; man kannte sie. Während die Einstellung meiner Eltern in bestimmten Dingen in Deutschland als altbacken oder gar rückständig gilt, betrachtet man sie in der Türkei als weltoffen und modern aufgeschlossen. Und doch habe ich in der Türkei begonnen, mich wieder nach Deutschland zu sehnen.

Die Menschenrechtsverletzungen

Nach der Ordnung, der Disziplin, den festen Strukturen und dem Alltag. Ich möchte wieder Regeln in meinem Leben und Menschen um mich herum haben, die sich an Regeln halten. Ich vermisse die Direktheit und die Nüchternheit meiner Deutschen.

Ich habe die Erfahrung gemacht, was es bedeutet, sich in ein anderes Land einleben zu müssen. In drei Stunden hätte ich jederzeit nach Hause fliegen können. Obwohl ich Freunde und Verwandte habe, ist diese “kleine Migration” nicht einfach: Das Gefühl, alles hinter sich gelassen zu haben. War es das wert? Und wohin gehöre ich wirklich?

Diese Frage stellte ich mir im Laufe der jüngsten Unruhen immer stärker: Gehöre ich diesem Land an, das so massiv die Menschenrechte verletzt, worunter bereits meine alevitische Vorfahren gelitten haben? Es scheint, als ob mein Vater Recht hat. Die Türkei ist weiter von Europa entfernt als angenommen. Aber ich habe die Protestbewegung gesehen. Ich kann meinem Vater nicht recht geben.

Rebellion der türkischen Jugend

Ich bin nach Istanbul gekommen, weil mich die türkische Jugend fasziniert hat. Sie schaffen es besser als wir Deutsch-Türken, gegen ihre Eltern zu rebellieren und für ihre Freiheiten zu kämpfen. Ihnen gelingt es, moderne und traditionelle Werte in Einklang zu bringen und sich dennoch klar zu positionieren: Sie stehen für persönliche Freiheiten, Menschenrechte und für Demokratie.

Sie setzen sich gegen Ehrenmorde, für das Kopftuch, für die Rechte von Homosexuellen, für Aleviten, für Kurden und für Tierrechte ein. Es war die türkische Jugend, zu der ich dazugehören wollte. Und es ist die türkische Jugend, die Teil Europas sein will.

Letzte Woche war ich auf einer Veranstaltung in Berlin, wo Angela Merkel eine Rede über Europa hielt. Ihr Satz “Wir Europäer sind uns in in diesen Dingen einig: Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit und Demokratie. Finden Sie erst einmal 500 Millionen Menschen auf der Welt, die alle diese Werte teilen.” Da fing ich an zu weinen. Ich dachte an meinen Vater. Ja, Papa, meine Zukunft liegt in Europa. Aber auch die Zukunft der türkischen Jugend. Wir müssen uns ihnen zuwenden.

Als ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Nationalhymne gesungen habe, war es nicht die türkische. Ich sang sie an diesem Tag mit der Bundeskanzlerin. Und musste wieder weinen. Ich gehöre zu Deutschland, ich gehöre zu Europa. Für immer bin ich Deutschland dankbar. Heute bin ich es auch Europa.

Quelle : Text und Foto cigdemtoprak.de

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