Türkei – Alles Mega oder was ?

fullFlughäfen, Autobahnen, Kraftwerke, Brücken: Mit gigantischen Infrastrukturprojekten will der türkische Premier Erdogan seinem Land einen Spitzenplatz unter den Industrienationen sichern.IstanbulBis zuletzt hatte der Flughafenbetreiber Fraport auf den Zuschlag gehofft, im Bieterverfahren für den neuen Istanbuler Großflughafen. Aber dann hatten die Frankfurter doch das Nachsehen. Mit einem Gebot von umgerechnet 22,15 Milliarden Euro ging das Projekt in der am Freitagnachmittag öffentlich veranstalteten und im türkischen Fernsehen übertragenen Auktion an ein Konsortium aus mehreren türkischen Firmen.

Die Gruppe wird den Flughafen bauen und 25 Jahre lang betreiben. Fraport hatte mit seinem türkischen Partner IC Holding zuletzt gut 22 Milliarden Euro geboten und unterlag nur knapp. „Wir sind an die Grenze des für uns wirtschaftlich Vertretbaren gegangen“, sagte ein Sprecher des Konzerns.
Vieles, was derzeit in der Türkei geplant wird, ist von so großen Dimensionen, dass selbst kapitalstarke Investoren und leistungsfähige Konzerne erst einmal schlucken müssen. Der Flughafen ist nur eines von einem Dutzend Jahrhundertvorhaben, mit denen Ministerpräsident Erdogan sein Land bis 2023, wenn sich die Gründung der Republik zum 100. Mal jährt, unter die zehn größten Wirtschaftsnationen der Erde führen will. Der Bau eines neuen Atomkraftwerkes, für den der japanische Konzern Mitsubishi Heavy Industries und der französischen Atomtechnikkonzern Areva heute den Zuschlag erhalten haben, ein anderes.
Derzeit liegt die Türkei global auf Rang 17. In der EU wäre das Land, gehörte es dazu, die Nummer sechs. Aber beim Wirtschaftswachstum wird die Türkei eh nicht an europäischen Maßstäben gemessen: 2010 und 2011 lag sie mit Wachstumsraten von neun und 8,5 Prozent gleichauf mit China. Und wenn, wie 2012, das Bruttoinlandsprodukt einmal nur um 2,2 Prozent zulegt, dann spricht man bereits von einer Rezession.In diesem Jahr soll die Wirtschaftsleistung wieder um mehr als fünf Prozent zulegen. Um diesen Prozentsatz ist die türkische Wirtschaft in den vergangenen zehn Jahren im jährlichen Durchschnitt gewachsen, und dabei soll es auch im kommenden Jahrzehnt bleiben.
Infrastrukturprojekte im Volumen von umgerechnet 200 Milliarden Euro sind in der Planung. Zu ihrer Verwirklichung setzt die Regierung vor allem auf privates Kapital: „Ich lade sie ein, im Zentrum der Welt zu investieren“, sagte Verkehrsminister Binali Yildirim Ende März selbstbewusst auf einer Konferenz in London. Der wichtigste Wachstumsmotor wird die 15-Millionen-Metropole Istanbul sein. Hier geht ein Großprojekt bereits seiner Vollendung entgegen: Marmaray, ein fast 14 Kilometer langer Eisenbahntunnel, der den Bosporus unterquert und die bisher getrennten Schienennetze im europäischen und asiatischen Teil der Metropole miteinander verknüpft. Damit entsteht zugleich eine durchgängige Eisenbahnverbindung vom Balkan in den Nahen Osten.Auch überirdisch soll es bald flüssiger laufen zwischen den beiden Kontinenten: In Kürze beginnt der Bau einer dritten Hängebrücke über den Bosporus. Das auf 3,5 Milliarden Euro bezifferte Projekt ist Teil der geplanten Marmara-Autobahn, die als Europastraße 80 von Lissabon in Portugal über Istanbul bis zur iranischen Grenze führen soll.
Die Fernstraße wird auch an den geplanten Istanbuler Großflughafen angebunden. Er soll 2017 in Betrieb gehen und anfangs für 70 Millionen Passagiere im Jahr ausgelegt sein. In der zweiten Ausbaustufe wird der Airport mit sechs Bahnen sogar 150 Millionen Fluggäste pro Jahr verkraften können. Das wären drei Mal so viele Fluggäste wie aktuell in Frankfurt. Der neue Istanbuler Airport wäre damit nach heutigen Maßstäben der größte der Welt.
Profitieren wird von dem neuen Flughafen vor allem die staatlich kontrollierte Turkish Airlines (THY), eine der weltweit am schnellsten wachsenden Fluggesellschaften und ein zunehmend gefährlicher Konkurrent für den Star Alliance-Partner Lufthansa. Auf ihrer bisherigen Heimatbasis, dem Istanbuler Atatürk-Flughafen, der an der Kapazitätsgrenze operiert, kann die türkische Airline kaum noch wachsen. Den neuen Flughafen will sie zum Drehkreuz für den Verkehr zwischen Europa, Asien und Afrika ausbauen.
Unweit des Flughafens soll ein weiteres Milliardenprojekt entstehen, der Istanbul-Kanal, eine künstliche Wasserstraße vom Schwarzen Meer zum Marmarameer. Der rund 50 Kilometer lange Kanal soll den Bosporus entlasten und vor allem den Tankerverkehr aufnehmen. Erste Kostenschätzungen gehen in eine Größenordnung von 10 bis 20 Milliarden Euro.
Beiderseits der Wasserstraße sollen Trabantenstädte für mehrere Millionen Menschen entstehen, um Istanbuls Bevölkerungswachstum aufzunehmen. Die Mega-City hat offiziell rund 15 Millionen Einwohner, tatsächlich dürften es aber eher 18 Millionen sein, und man nähert sich mit großen Schritten der 20-Millionen-Marke.
Mit der Bevölkerung und der Wirtschaftsleistung wächst auch der Energiebedarf der Türkei, und zwar um rund acht Prozent pro Jahr. Ohne Atomkraft glaubt die Regierung die Stromlücke nicht schließen zu können. Das erste Atomkraftwerk ist an der Südküste bereits im Bau, ein Konsortium mit Beteiligung des japanischen Konzerns Mitsubishi Heavy Industries und dem französischen Atomtechnikkonzern Areva hat nun nach Berichten türkischer Medien den Zuschlag für eine zweite Anlage bekommen. Auch die Katastrophe von Fukushima hat den Glauben der islamisch-konservativen Regierung an die Atomenergie nicht erschüttern können: Bis 2023 will die Türkei insgesamt drei Atommeiler ans Netz bringen.

Erdogan steht vor letzter Wiederwahl

Erdogan wird das Jubiläumsjahr 2023 zwar nicht mehr als Regierungschef erleben, denn nach den Statuten seiner Partei darf er bei den Wahlen im Juni 2015 nicht ein viertes Mal kandidieren. Deshalb dürfte er versuchen, im kommenden Jahr die Nachfolge von Staatspräsident Abdullah Gül anzutreten. Erdogan könnte dann den 100. Geburtstag der Republik im höchsten Staatsamt feiern.

Bis dahin soll auch ein weiteres Großprojekt fertig sein, das dem frommen Premier besonders am Herzen liegt: Vergangenen Monat begannen auf dem Camlica-Hügel über Istanbul die Arbeiten zum Bau einer riesigen Moschee. Das gigantische Gotteshaus soll 30.000 Gläubigen Platz bieten und gleich sechs Minarette haben, „die höchsten der Welt“, wie Erdogan verspricht.

Handelsblatt

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