In der arabischen Welt gilt die Türkei als demokratischer Leuchtturm…

In der arabischen Welt gilt die Türkei als demokratischer Leuchtturm – jedenfalls denen, die für ihr eigenes Land eine Demokratie anstreben. Die politische Führung in Ankara stellt das ähnlich dar: Von der Türkei lernen heißt Freiheit lernen, lautet sinngemäß die Parole des türkischen Regierungschefs Tayyip Erdogan und seines Außenministers Ahmet Davutoglu bei ihren Reisen in die arabische Welt.
Doch der Leuchtturm strahlt nicht mehr so hell wie noch vor einigen Jahren. Das zeigte sich zuletzt bei dem vorläufigen Abschluss eines aufsehenerregenden Prozesses gegen Angehörige des türkischen Militärs, in dem Ende vergangener Woche die Urteile ergingen. Die Hauptangeklagten im sogenannten Vorschlaghammer-Prozess wurden zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt, weil die Richter sie für schuldig befanden, einen Putsch gegen die Regierung Erdogan geplant zu haben. Das Urteil wurde später auf Haftstrafen von 20 Jahren reduziert. Zudem wurden 78 ranghohe Generäle zu jeweils 18 Jahren, 214 Militärs zu 16 und 28 Soldaten zu 13 Jahren Haft verurteilt. Insgesamt befand man 326 Angeklagte für schuldig.
Zum Teil wurden Unschuldige bestraft
Seit der Verkündung des Strafmaßes geschieht Ungewöhnliches in der Türkei: Menschenrechtler und liberale Journalisten, denen gewiss keine Sympathie für das türkische Militär nachgesagt werden kann, äußern Zweifel an der Angemessenheit der Urteile. Eine überraschende Wende, die nur verständlich wird durch einen Blick zurück: Bis vor etwa fünf Jahren galt für das türkische Militär eine Immunität vor Strafverfolgung. Wenn überhaupt, wurden Soldaten vor Militärgerichten angeklagt, wo sie in der Regel freigesprochen wurden. Als im Jahr 2005 durch Zufall herauskam, dass ein Sprengstoffanschlag in der von Kurden besiedelten südostanatolischen Grenzprovinz Hakkari nicht von kurdischen Terroristen, sondern von zwei Militärangehörigen verübt worden war, die unmittelbar nach ihrer Tat gestellt wurden, verurteilte ein ziviles Gericht die Männer zu fast 40 Jahren Haft. Das Verfahren wurde jedoch an ein Militärgericht überstellt, das die Täter freisprach. Ein Staatsanwalt, der die Schuld der Militärs nachgewiesen hatte, wurde vom Dienst suspendiert und mit einem Berufsverbot belegt. Solche Fälle waren in der Türkei über Jahrzehnte Normalität.Mit dem Erstarken von Erdogans „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) haben sich die Verhältnisse aber innerhalb von wenigen Jahren von Grund auf geändert. Die einst Unantastbaren sind antastbar geworden. In einigen Fällen sind sie den neuen Machthabern sogar schutzlos ausgeliefert – so wie im Fall „Balyoz“ (Vorschlaghammer), in dem zumindest zum Teil Unschuldige bestraft wurden. Die Ermittlungen in Sachen „Vorschlaghammer“ begannen nach Veröffentlichungen in der Tageszeitung „Taraf“ Anfang 2010. Die Zeitung dokumentierte Putsch-Pläne der Militärs. Die Umstände des Falls „Vorschlaghammer“ sind etwas verwirrend, denn was in den Medien meist als ein Verfahren bezeichnet wird, sind eigentlich drei einzelne, die später zusammengelegt wurden. Im ersten Verfahren, das im Dezember 2010 begann, waren 196 Personen angeklagt, im zweiten 28, im dritten 143.
Der namhafteste Angeklagte war Cetin Dogan, der 2004 pensionierte ehemalige Befehlshaber der Ersten Armee. Dogan wird beschuldigt, mit einigen anderen ranghohen Generälen einen Plan zum Sturz AKP-Regierung ausgearbeitet zu haben. Die Putschisten hatten demnach vor, durch Anschläge auf Moscheen und führende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, aber auch durch den Abschuss griechischer Militärjets Chaos in der Türkei zu stiften und unter dem Vorwand einer Wiederherstellung der Ordnung die Macht zu ergreifen. Die Pläne sollen nach dem ersten Wahlsieg der AKP Ende 2002 ausgearbeitet worden sein. Bei einem Seminar von Angehörigen der Ersten Armee Anfang 2003 wurde der Putsch als „Planspiel“ geübt. Dass ein solches Seminar stattgefunden hat, wird von den Beteiligten nicht bestritten. Allerdings behaupteten Cetin Dogan und die wichtigsten Mitangeklagten von Anfang an, bei den Übungen habe es sich um „Strategiespiele“ gehandelt. Niemand habe die Absicht verfolgt, tatsächlich zu putschen.
Viele Mängel kennzeichneten das Verfahren
Angesichts der von Militärputschen durchzogenen Geschichte der modernen Türkei war das eine Behauptung, die nicht jeder den Angeklagten abnahm, zumal sich aus den auszugsweise in türkischen Medien veröffentlichten Tagebüchern hoher Militärs entnehmen ließ, dass es in den Streitkräften nach dem ersten Wahlsieg der AKP gärte. Viele Generäle und hohe Offiziere waren unzufrieden, weil sie „ihre“ Türkei, in der im Zweifel stets das Militär das letzte Wort hatte, in Gefahr sahen.
Es entstand, wie heute feststeht, in den ersten Jahren der AKP-Regierung eine Vielzahl an Putschplänen mit zum Teil exotischen Bezeichnungen wie „Mondschein“, „Blondes Mädchen“ oder „Handschuh“. Dass die Pläne nicht verwirklicht wurden, liegt nach heutigen Erkenntnissen auch am damaligen, für türkische Verhältnisse ungewöhnlich liberalen Generalstabschef Hilmi Özkök. Zwar zeugen neuere Veröffentlichungen von Tagebüchern ehemaliger Militärs davon, dass auch Özkök kein Freund der AKP war, doch stellte er sich andererseits den potentiellen Putschisten in den Weg. Wer seine Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen wollte, sollte das auf demokratische Weise tun – für althergebrachte türkische Militärs eine schier unerfüllbare Forderung.
Es gab also nachweislich Pläne zum Putsch, und es gab unter den Angeklagten auch solche, die bedenkenlos zur Gewalt gegriffen hätten, wäre Özkök nicht gewesen. Dennoch kann das Massenurteil im „Vorschlaghammer“-Prozess niemanden zufriedenstellen, dem nicht nur an einer Beschneidung des Einflusses des Militärs, sondern auch an einer Demokratisierung der Türkei gelegen ist. Zu viele Mängel kennzeichneten das Verfahren. Die Anklageschriften waren, wie bei Prozessen in der Türkei oft der Fall, oberflächlich und fehlerhaft zusammengeflickte Konglomerate aus berechtigten Anschuldigungen, unbeweisbaren Halbwahrheiten und kruden Unterstellungen. Entlastende Beweise wurden ignoriert, Zeugen der Angeklagten nicht vorgeladen.
Ein Sieg des Rechtsstaates sieht anders aus
Immer deutlicher (und kaum überraschend) zeigt sich, dass die Beschneidung der Vorrechte des Militärs nicht zu einer Demokratisierung der Türkei führen, sondern die autoritäre Herrschaft der AKP stärken. Ähnlich wie einst das Militär schränkt nun die AKP den Spielraum für Meinungsfreiheit ein, wenn auch mit anderen Inhalten. In Gerichtsverfahren, in denen Mitglieder oder Schützlinge der AKP angeklagt sind, wird die Aufarbeitung behindert, werden kritisch berichtende Journalisten auf Druck der Regierung entlassen.
Dass im Vorschlaghammer-Prozess am Ende von mehr als 360 Angeklagten bis auf 36 alle schuldig gesprochen wurden, ist schon deshalb seltsam, weil die Putsch-Pläne, wie bei solchen Vorhaben notwendigerweise üblich, angeblich nur einem kleinen Zirkel von ranghohen Verschwörern im Detail bekannt waren. Viele der Verurteilten waren lediglich Teilnehmer des Seminars und erfuhren erst während der Veranstaltung von dessen Zweck. Die Teilnahme war ihnen von Vorgesetzten befohlen worden. In einigen Fällen wurden sogar Soldaten angeklagt, die nicht einmal an dem Seminar teilgenommen hatten.
Ein Sieg des Rechtsstaates sieht anders aus. Das dürfte sich spätestens dann zeigen, wenn der Fall, wie so viele vor türkischen Gerichten begonnene Prozesse, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte endet. Dabei gibt es immer noch genügend Gründe, der türkischen Armee zu misstrauen. Noch immer ist Artikel 35 des internen Dienstgesetzes der Armee in Kraft, der das Militär beauftragt, die verfassungsrechtliche Ordnung zu verteidigen – zur Not durch einen Putsch.http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/tuerkei-die-antastbaren-11906202.html
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