Über die türkisch-griechische Grenze in ein besseres Leben…

Jeden Monat riskieren Hunderte von Migranten beim Versuch, den türkisch-griechischen Grenzfluss Evros zu überqueren, ihr Leben. Ihre Odyssee ist damit aber noch nicht beendet. Von Elena Panagiotidis, Orestiada
Der Traum von einem besseren Leben endet für viele am Ende der Welt. In der Nähe des Dorfes Sidiro, in den griechischen Rhodopen, unweit der Grenze zur Türkei, liegt der Friedhof für diejenigen, die beim Versuch, die Grenze von der Türkei nach Griechenland zu überschreiten, umgekommen sind. Ohne die Hilfe der Einheimischen würde man diesen Flecken staubiger Erde nicht finden. Seit ein paar Monaten ist das Grundstück umzäunt, unter den aufgeworfenen Hügeln liegen die Toten, deren Namen niemand kennt.
Ertrinken und erfrieren
Mehmet Serif Damadoglu ist das religiöse Oberhaupt der Muslime im griechischen Evros-Gebiet. Zu ihm werden die Toten gebracht. «Sie sind ertrunken, erfroren oder im Minenfeld umgekommen», zählt der Mufti die Todesursachen auf. Ende der achtziger Jahre hat er die ersten Toten begraben, Kurden aus der Türkei. Die Kurden hätten Ausweise gehabt, damals habe man noch versuchen können, Angehörige ausfindig zu machen. Die Toten, die jetzt gebracht werden, haben keine Papiere.
Der Mufti zieht in seinem Büro in der Kleinstadt Didymoteicho einen Ordner aus dem Regal. In diesem heftet er die Papiere aus dem Spital der Stadt Alexandroupolis ab, wo die Autopsien durchgeführt, DNA-Proben genommen und die Toten fotografiert werden. Auf dem obersten Blatt steht: «Eine Frau unbekannter Identität, 20 bis 23 Jahre alt.» Über 400 Flüchtlinge habe er in mehr als 20 Jahren beerdigt. Bei jedem bete er, es möge der letzte sein, sagt der Mufti. Er sagt auch: «Das ist ein Problem Europas. Griechenland kann so viele Flüchtlinge nicht allein schultern. Aber ich sehe nicht, dass sich die europäischen Führer zusammensetzen und sich um eine Lösung bemühen.»
Rund 55 000 Personen haben laut der Europäischen Agentur für die Sicherung der Aussengrenzen (Frontex) im Jahr 2011 illegal die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei überschritten. Das waren 17 Prozent mehr als im Jahr 2010. Laut dem Gerichtsmediziner für Thrakien sind 70 Migranten im Jahr 2010 beim Versuch, den Fluss zu überqueren, umgekommen. 46 von ihnen konnten nicht identifiziert werden. Bis zum August 2011 kamen weitere 47 Personen ums Leben. Viele Tote werden gar nicht gefunden, die starke Strömung des Evros trägt sie fort, sie verschwinden in der schlammigen Tiefe des Flusses.
Seitdem Frontex in der Ägäis operiert, ist es immer schwieriger geworden, über den Seeweg nach Europa zu gelangen, die Migrationsströme haben sich in den Nordosten Griechenlands verlagert. Die über 200 Kilometer lange Landgrenze mit der Türkei bildet zum einen der Fluss Evros (türkisch Meric). Hinzu kommen zwölfeinhalb Kilometer Landgrenze, auf der im April mit dem Bau eines Zauns begonnen wurde. Nea Vyssa ist meist das erste griechische Dorf, das die Flüchtlinge, die im Norden den Evros überqueren, erreichen. 2500 Einwohner leben hier. Früher waren es mehr, doch viele sind selbst ins Ausland migriert. Das Dorf ist umgeben von Sonnenblumenfeldern. Der Geruch von Knoblauch, der in den Lehmböden besonders gut gedeiht, hängt in der Luft.
Schon in den frühen Morgenstunden sitzen ältere Bauern im Hof ihrer Häuser, um die getrockneten Knollen zu flechten. Auf dem Dorfplatz warten Tagelöhner aus Bulgarien. Es ist meist um diese Zeit, morgens zwischen fünf und sechs Uhr, da die ersten Migranten das Dorf erreichen. Eine Gruppe von 22 Personen sitzt zwischen der Bahnstation und dem Kinderspielplatz auf der Erde. Die Menschen sind erschöpft. Ihre Hosen und Hemden sind voll Schlamm. Unter den Migranten ist eine syrische Familie, der Grossvater ist dabei, ein Kleinkind und ein Baby.
Die anderen Flüchtlinge sagen, sie seien aus Afghanistan. Sie alle haben soeben die Überfahrt über den Evros hinter sich gebracht. «Wir waren zehn Leute in einem Plasticboot, das wie ein Kinderspielzeug war», sagt der 17-Jährige Ata. «Die Strömung war so stark, es war so dunkel. Ich hatte fürchterliche Angst.» Seine Arme, sein Hals und sein Gesicht sind von Hunderten von Mückenstichen angeschwollen. Seinem älteren Cousin geht es nicht besser. Die Mütter der beiden haben sich auf die staubige Erde gelegt, sie lächeln müde. «Wir haben zwei Nächte überhaupt nicht geschlafen, sondern uns in den Feldern auf der türkischen Seite versteckt», erzählt Ata, der erst einen leichten Flaum auf der Oberlippe hat. «Wir sind tagelang gelaufen und im Schlamm steckengeblieben, es war sehr schwierig, vorwärtszukommen.» Er fröstelt.
«In Athen herrscht Chaos»
Für die Einwohner von Nea Vissa sind Flüchtlinge kein ungewohnter Anblick. «In den vergangenen zwei Jahren kamen mindestens 50 pro Tag durch das Dorf», sagt Panagiotis, der eine Tankstelle betreibt. In den letzten Wochen seien es weniger geworden. Und er stellt sich die Frage, warum alle über Griechenland kommen. «Wäre es nicht einfacher, über Bulgarien nach Westeuropa zu gelangen? Hier sitzen sie doch in der Falle.» So denken viele der befragten Einwohner. «Sie tun uns leid, und wir helfen ihnen mit Wasser und Kleidung», ist der meistgehörte Satz – «So kann es nicht weitergehen» der zweithäufigste.
Trotzdem reagieren die Einwohner recht gelassen. Fanny, die Inhaberin eines kleinen Ladens, drückt es so aus: «Die Flüchtlinge ziehen hier nur durch. In Athen herrscht das Chaos.» Auch die 22 Neuankömmlinge wollen so schnell wie möglich weiter. Nach einer gewissen Zeit kommen Polizisten angefahren. Sie schreiben jedem Migranten mit Filzstift ein A auf die Hand. «Unwürdig», findet das Ata. «Sie denken, wir Afghanen sind wie Tiere, wild. Doch das stimmt nicht.» In einem fensterlosen Minibus wird zunächst die syrische Familie nach Fylakio gebracht, in das grösste der vier Auffang- und Registrierungszentren der Region, es dient zugleich als Ausschaffungszentrum.
Der Polizeichef von Orestiada, Giorgo Salamangas, erklärt, früher habe man den Aufgegriffenen Armbändchen mit einem Papier umgebunden, auf dem vermerkt war, wo sie aufgefunden wurden. Doch das hätten die Flüchtlinge zerrissen, daher würden sie nun mit dem Stift gekennzeichnet. Salamangas’ Aufgabe ist es, zusammen mit den Frontex-Beamten, die seit Ende 2010 im Evros-Gebiet im Einsatz sind, dem übrigen Europa die Migranten und Flüchtlinge vom Leib zu halten. Den Bau des Zauns hält er für notwendig. Ob dann nicht noch mehr Leute bei der gefährlichen Flussüberquerung ihr Leben verlieren werden, wenn der Landweg dicht ist? «Wer illegal ein Land betritt, nimmt ein Risiko auf sich», sagt Salamangas.
Ein doppelter Zaun
Der Polizeichef zeigt einen Videofilm, mit Nachtsichtkameras aufgenommen: Am türkischen Ufer setzt ein Schmuggler zehn Personen in ein Schlauchboot, das zwei Personen Platz bietet. Dann treibt der Fluss das Boot in Richtung griechisches Ufer. «Diese hatten Glück, dass die Strömung nicht so stark war und das Boot nicht umgekippt ist», sagt Salamangas. Sie konnten sich auf ein Inselchen retten, die griechische Polizei hat sie dort geholt. Eine Aufnahme vom 11. Januar 2012 zeigt einen Knaben, der sich ans Schilf klammert und auf Rettung wartet. 130 Schlepper wurden laut Salamangas 2011 festgenommen.
Angesprochen auf die von in- und ausländischen Organisationen immer wieder kritisierten unmenschlichen Zustände in den Aufnahmezentren am Evros (siehe Zusatz), sagt Salamangas, diese Umstände seien auf den Anstieg der illegalen Übertritte zurückzuführen. Das Auffangzentrum in Fylakio sei in diesem Frühjahr renoviert worden, nun seien Putzfrauen den ganzen Tag im Einsatz, es gebe dreimal täglich zu essen, und man arbeite mit Rechtsanwälten und Dolmetschern zusammen.
Trotz einer aus Athen erteilten Besuchserlaubnis lässt sich das Innere des Zentrums dann doch nicht in Augenschein nehmen. Das gelbe Gebäude liegt ein paar hundert Meter ausserhalb des Dorfes Fylakio, 20 Kilometer von Orestiada entfernt, im freien Feld. Es ist von einem doppelten Zaun umgeben, der oben und im Zwischenraum mit Stacheldraht verstärkt ist. Aus dem Inneren des Geländes dringt ohrenbetäubender Lärm, junge Männer versuchen, aus den kleinen, vergitterten Fenstern zu schauen, sie rufen und winken.
Bei einem Rundgang um das Gelände entdeckt man die Migranten, die am Morgen von Nea Vissa nach Fylakio gebracht worden waren. Seither sind über acht Stunden vergangen. Die Menschen sitzen draussen in der Hitze, nur Zeltplanen schützen sie notdürftig vor der Nachmittagssonne, es gibt nicht genügend Stühle. Man hört das Baby der syrischen Familie weinen, der Grossvater spaziert auf und ab. Ata und sein Cousin liegen zusammen mit anderen Jugendlichen auf einem der zwei Tische und dösen. Man habe sie fotografiert und ihre Fingerabdrücke genommen. Sie wüssten nicht, was jetzt geschehe. Schrecklich durstig seien sie, sie hätten kein Wasser zu trinken bekommen, seit sie am Morgen in das Zentrum gebracht worden seien, nur ein Käsesandwich hätten sie erhalten.
Die Migranten werden in Fylakio fotografiert, befragt, ihnen werden die Fingerabdrücke abgenommen. Diese werden sogleich in die Eurodac-Datei in Lyon eingespeist. Theoretisch kann man versuchen, einen Asylantrag in Fylakio zu stellen. Doch die meisten entscheiden sich dagegen, da sie in andere europäische Länder wollen. Zudem ist das griechische Asylsystem willkürlich und überfordert. Vermutlich um die extreme Überbelegung der vergangenen Monate zu vermeiden, werden Flüchtlinge, die aus Ländern stammen, in die sie nicht problemlos abgeschoben werden können, manchmal innerhalb von Stunden wieder freigelassen.
«Bubenstreiche»
So trifft man noch am selben Abend am Bahnhof von Orestiada die meisten der afghanischen Migranten wieder. Sie alle haben ein Papier bekommen, mit der Aufforderung, das Land innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Weil kein Bus mehr von Fylakio nach Orestiada fuhr, haben sie Taxis genommen. Es fährt auch kein Zug mehr nach Alexandroupolis, von wo aus man noch nach Athen reisen könnte. Auch der letzte Bus ist schon weg. Die Afghanen entscheiden sich, die Nacht am Bahnhof zu verbringen, um am nächsten Mittag den Zug nach Athen zu nehmen. Die Jüngeren zählen ihr Geld. Vier Euro für eine Telefonkarte haben sie nicht mehr, um ihre Angehörigen zu informieren. Sie brauchten das Geld für das Billett. Die Stechmücken am Bahnhof sind eine Plage, an Schlaf ist nicht zu denken.
Es ist schon fast Mitternacht, als eine Gruppe junger Männer am Ende des Perrons auftaucht. «Blut, Ehre, Chryssi Avgi», so schreien sie auf Griechisch den «Schlachtruf» der rechtsextremen Partei. «Geht nach Athen. Da wartet schon Chryssi Avgi auf euch», grölen sie weiter. Die Polizei reagiert am Telefon gelassen: «Das sind Bubenstreiche.» Kaum legt man auf, werfen die jungen Männer mit Steinen nach den Migranten. Die beiden afghanischen Frauen beschliessen, mit ihren Söhnen ein Hotel zu suchen. Die Jugendlichen, die ohne Geld und ohne die Begleitung eines Erwachsenen sind, verbringen die Nacht am Bahnhof. Die meisten der Flüchtlinge ahnen nicht, dass ihre Odyssee noch lange nicht beendet ist.

http://www.nzz.ch/aktuell/international/ueber-den-fluss-evros-in-ein-besseres-leben-1.17327932

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