Wer hat schon mal fast ein halbes Jahrhundert im Wartezimmer gesessen ?

Die Türkei wollte mal Mitglied der EU werden, aber die EU wollte sie nicht. Heute blicken Politik und Wirtschaft vom Bosporus verstärkt nach Osten – mit Erfolg. Denn dort liegen die Wachstumsmärkte des Landes.

IstanbulNoch drei Wochen, dann ist Funkstille. Am 1. Juli will die türkische Regierung den Dialog mit der Europäischen Union einstellen. Denn dann übernimmt Zypern für sechs Monate die rotierende EU-Ratspräsidentschaft. Für die Türkei, die seit 1974 den Norden der Mittelmeerinsel militärisch besetzt hält, ist die international anerkannte Republik Zypern kein Staat. Deshalb werde sich „die türkische Republik nicht an Aktivitäten beteiligen, bei denen Südzypern den Vorsitz hat“, erklärte Außenminister Ahmet Davutoglu vergangene Woche im Beisein von EU-Chefdiplomatin Catherine Ashton in Ankara. Davutoglu glaubt sich den Boykott leisten zu können. Denn die 2005 aufgenommenen EU-Beitrittsverhandlungen sind ohnehin fast zum Stillstand gekommen.Türkische Regierungspolitiker versichern zwar, die EU-Mitgliedschaft bleibe ein „wichtiges Ziel“. Aber das sind eher Lippenbekenntnisse. In Wirklichkeit steht der Beitritt in Ankara nicht mehr oben auf der politischen Agenda. Die Türkei blickt stattdessen nach Osten. Das gilt für die Politik, aber auch für die Wirtschaft.

Kein Land hat so lange im EU-Wartezimmer gesessen wie die Türkei: fast ein halbes Jahrhundert. Schon 1963, als der damalige Kommissionspräsident Walter Hallstein (CDU) in Ankara das Assoziierungsabkommen unterzeichnete, wurde den Türken die Vollmitgliedschaft versprochen. Die Verhandlungen begannen aber erst 2005 – und kamen Ende 2006 schon wieder zumErliegen, wegen des ungelösten Zypernkonflikts, so zumindest die offizielle Begründung der EU. Zwar will Brüssel jetzt mit einer „Positiv-Agenda“ die „frustrierende Phase des Stillstands“ überwinden, so Erweiterungskommissar Stefan Füle vergangene Woche in Ankara. Doch die Mehrzahl der Türken glaube nicht mehr an den Beitritt, sagt Bahri Yilmaz, Ökonomie-Professor an der Istanbuler Sabanci-Universität. „Die meisten Menschen misstrauen Europa schon seit dem Beginn der Verhandlungen, die nie richtig in Gang kamen“, sagt Yilmaz. Wirtschaftlich sei die Türkei zwar dank der 1996 umgesetzten Zollunion bereits weitgehend in Europa integriert. Aber die Vollmitgliedschaft nennt der Volkswirt „einen Wunschtraum“, der frühestens in zehn Jahren in Erfüllung gehen werde – wenn überhaupt. Denn bis dahin könne die Türkei auch nach Osten abdriften.

Dieser Kurswechsel hat in der Außenpolitik und im Außenhandel bereits begonnen. Die Türkei wächst in die Rolle einer Führungsmacht im Nahen Osten. Dahinter stehen nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen. Noch entfällt rund die Hälfte des türkischen Außenhandels auf die EU-Staaten. Aber die Länder des Nahen Osten, Mittelasiens und Nordafrikas werden immer wichtigere Handelspartner. Ihr Anteil an den türkischen Exporten hat sich in den vergangenen acht Jahren verdoppelt. 2004 gingen 14 Prozent der türkischen Exporte nach Deutschland, jetzt sind es nur noch zehn Prozent. „Der Irak wird schon bald Deutschland als größten Handelspartner der Türkei ablösen“, prognostiziert Mark Spelman, Direktor beim Beratungsunternehmen Accenture.

http://www.handelsblatt.com/politik/international/abkehr-von-europa-tuerkei-wendet-sich-von-europa-ab/6740492.html

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