Späte Genugtuung für den türkischen Regierungschef

Von Thomas Fuster, Istanbul
Das Verhältnis des türkischen Regierungschefs Erdogan zum World Economic Forum (WEF) ist ein angespanntes. Noch allzu präsent ist die Erinnerung an den Eklat im Januar 2009. Wutentbrannt verliess Erdogan damals in Davos ein hochrangig besetztes Podium. Er war verärgert, da der Moderator ihm kaum Zeit gelassen hatte für eine Replik auf einen Monolog des israelischen Präsidenten Peres, der den kurz zuvor von Israel lancierten Angriff auf den Gazastreifen zu rechtfertigen versuchte. Erdogans längst legendär gewordene Bitte «One minute, one minute» blieb ungehört, und der Ministerpräsident schwor sich, nie wieder nach Davos zu reisen.
Die Reise in die Bündner Alpen muss der türkische Regierungschef auch gar nicht auf sich nehmen, solange das WEF zu ihm kommt, so wie dieser Tage in Istanbul. Und in der Rolle des Gastgebers steht Erdogan weit mehr als eine Minute zu. Die Türkei empfängt die internationalen Wirtschaftsvertreter in einer Position der Stärke. Angesichts einer ökonomisch aus den Fugen geratenen EU präsentiert sich das Land gleichsam als Oase der Prosperität. Um beeindruckende 8,5% expandierte die Türkei 2011, und dieses Jahr wird ein Wachstum um 4% erwartet – all dies vor dem Hintergrund einer massvollen Fiskalpolitik und eines entsprechend tiefen Defizits und Schuldenstands.
Grund zur Schadenfreude gegenüber der EU, von der sich der «ewige» Beitrittskandidat seit Jahren mit Herablassung und Doppelmoral behandelt fühlt, ist zwar fehl am Platz. So fliessen 46% der türkischen Exporte in die EU, weshalb man an deren Genesung ein ureigenes Interesse hat. Dennoch, eine gewisse Genugtuung ist in Istanbul spürbar. Der Tigerstaat im Zentrum Eurasiens orientiert sich seit Jahren mit wachsendem Erfolg in Richtung Osten. Das impliziert zwar noch keine Abwendung vom Westen. Die ökonomische Abhängigkeit von der EU wird aber stetig abgebaut. Da lässt sich der Liebesentzug, komme er nun aus Brüssel oder aus Davos, bereits etwas gelassener ertragen.

http://www.nzz.ch/aktuell/wirtschaft/uebersicht/spaete-genugtuungfuer-den-tuerkischen-regierungschef-1.17192683

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