Quelle der Inspiration – Was Griechenland von der Türkei lernen kann

Griechenlands Probleme weisen einige Parallelen zur türkischen Finanzkrise des Jahres 2001 auf. Auch die Türkei litt unter politischer Instabilität, Überschuldung und Klientelismus. Ankara unterwarf sich danach Reformen, die auch Athen gut anstünden.
Was dem Dollar, Yen, Euro oder Pfund längst eigen ist, besitzt seit Anfang März auch die türkische Lira: ein eigenes Währungssymbol. Auf den Preisschildern von Istanbuls Einkaufsläden und Restaurants hat sich das Symbol erstaunlich rasch durchgesetzt. Auserkoren wurde es im Rahmen eines Wettbewerbs, an dem über 8000 Tüftler teilnahmen. Das Rennen machte schliesslich ein Vorschlag, bei dem die beiden Anfangsbuchstaben der Währung – also das T und das L – in einer Weise verschmolzen werden, die am ehesten als Angelhaken mit zwei Querstrichen zu beschreiben ist. In Ankara bevorzugt man indes eine andere Lesart; dort interpretiert man das Symbol als Anker, als Zeichen der Stabilität.
Erinnerung an Verwerfungen
Auf den ersten flüchtigen Blick erinnert das zweifach gestrichene «t» auch etwas an das Euro-Zeichen, also das runde E, das ebenfalls von zwei Strichen durchzogen ist. Zwischen den Symbolen gibt es aber einen Unterschied, der nicht nur grafischen Gründen geschuldet ist: Während die zwei Querbalken beim Euro nämlich horizontal verlaufen (was Charttechniker nur als Zeichen der Stagnation werten können), deuten sie bei der türkischen Währung steil nach oben. Dass diese Richtung durchaus Ambitionen spiegelt, wurde bei der Präsentation des Symbols nicht verschwiegen. Wobei man es aus Gründen des Anstandes unterliess, der Euro-Zone, die derzeit selbst mit einer Stagnation zufrieden sein müsste, zusätzliches Salz in offene Wunden zu streuen.
Einen solchen Wink hat man in Ankara auch nicht nötig. Allzu offensichtlich sind die Unterschiede zwischen der von Zerfallserscheinungen gezeichneten Euro-Zone und der seit Jahren rasant wachsenden Türkei. Dabei galt das Land am Bosporus noch zu Beginn des jungen Jahrhunderts als hoffnungsloser Fall. Der überschuldete Staat stand vor dem Ruin, der dysfunktionale Bankensektor war gelähmt, und eine hartnäckige (Hyper-)Inflation sorgte dafür, dass der türkischen Lira der unrühmliche Rekord zufiel, die Valuta mit dem weltweit schwächsten Wert zu sein. Selbst der strammste türkische Patriot hätte es damals nicht gewagt, im Zusammenhang mit der Landeswährung solche Worte wie Anker oder Stabilität in den Mund zu nehmen.
Die ökonomischen Verwerfungen, mit denen die Türkei im Jahr 2001 kämpfte, erinnern in mancherlei Hinsicht an die derzeitige Schuldenkrise Griechenlands. Wiederholt ist in jüngerer Vergangenheit denn auch der Ruf an Athen ergangen, sich am östlichen Nachbarn, der nach dem tiefen Fall dank konsequenter Reformpolitik rasch wieder auf die Beine kam, ein Vorbild zu nehmen. Die Appelle kamen dabei nicht nur aus dem Ausland. Vor Jahresfrist wandte sich auch der damalige Regierungschef Jiorgos Papandreou mit einem solchen Aufruf ans Parlament. Die historischen und kulturellen Animositäten der beiden Länder hintanstellend, fragte er: «Warum können wir nicht tun, was unsere Nachbarn, die Türken, getan haben?»
Eine folgenschwere Sitzung
Doch ist die Türkei von 2001 überhaupt vergleichbar mit dem Griechenland der vergangenen Jahre? Und ist die Therapie, mit der die Türkei ihr Malaise beendete, auf den griechischen Patienten übertragbar? Um diese Fragen zu beantworten, gilt es, sich die Dimension und Dynamik der türkischen Finanzkrise von 2001 kurz in Erinnerung zu rufen. Der Staatshaushalt des Landes war damals gänzlich aus dem Lot geraten: Das Defizit lag bei 17% des Bruttoinlandprodukts (BIP) und der öffentliche Schuldenstand bei rund 80% des BIP. Es sind dies Zahlen, die bezüglich Verschuldung zwar besser, bezüglich Defizit indes gravierender waren als Griechenlands Daten im Jahr 2009, als nach einem Regierungswechsel die zuvor verschleierte Misere erstmals einer breiten Öffentlichkeit offenbar wurde.
Rückblickend wird die türkische Finanzkrise meist mit dem Jahr 2001 fixiert. Der Druck für den Beinahe-Bankrott hatte sich aber schon zuvor aufgebaut. Politische Parteien, die sich ihre Unterstützung in griechischer Manier mit teuren Wahlgeschenken zu erkaufen versuchten, plünderten schamlos die Staatskassen. Und um die stetig steigende Schuldenlast finanzieren zu können, wurden die aufs Engste mit der Politik verflochtenen Banken mit grosszügigen Anreizen dazu angehalten, ihre Finanzinvestitionen vorab auf staatliche Schuldverschreibungen zu konzentrieren. Private Unternehmen kamen dagegen oft nur noch zu Krediten, wenn sie über Fürsprecher in politischen Entscheidgremien verfügten.
Problematische Staatsbanken
Den Überdruck zur Explosion brachte ein offen ausgebrochener Streit zwischen dem damaligen Staatspräsidenten Ahmet Necdet Sezer und dem Regierungschef Bülent Ecevit im Februar 2001. In einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates schmiss Sezer seinem Rivalen eine Kopie der Verfassung auf den Tisch. Sezer warf der Regierung vor, im Kampf gegen die endemische Korruption nichts zu unternehmen. Auslöser der Kritik waren die milliardenschweren Verluste der vier grössten Staatsbanken im Jahr 2000. Der Präsident wollte deren Misswirtschaft mit einer eigenen Kommission untersuchen, zumal er sich überzeugt zeigte, dass die hohen Verluste nicht zuletzt mit Gefälligkeits-Krediten an Personen, die den Regierungsparteien nahestanden, zu erklären waren.
Dass es in der Türkei tatsächlich solche nach politischen Kriterien allozierte Bankkredite gab, war ein offenes Geheimnis. So wurden die vom Staat kontrollierten Banken quasi den Regierungsparteien zugeordnet. Diese konnten dann über «ihre» jeweiligen Institute billige Kredite, die selten je gedeckt waren, an ihre Unterstützer verteilen. Als der Präsident daher dem Regierungschef an jener ominösen Sitzung vorwarf, auf einem Sumpf zu sitzen, statt diesen auszutrocknen, hatte dies durchaus seine Gründe. Dennoch verliess Ecevit wutentbrannt das Treffen und erklärte den Medien, eine schwere Krise im Zentrum der Regierung sei ausgebrochen. Dem ohnehin strapazierten Vertrauen in das Land war dies wenig förderlich.
Die Folgen liessen nicht lange auf sich warten: Die Investoren zogen ihre Gelder ab, die Banken flüchteten in Devisen, und die türkische Lira wurde zum Ziel spekulativer Angriffe. Die Istanbuler Börse verlor innerhalb eines Tages 18% an Marktwert, und der Zins für Tagesgeld schnellte von 44% auf rund 7500%. Die Zentralbank versuchte anfänglich, die Wechselkursparitäten im Rahmen eines Systems des Crawling Peg zu verteidigen. Dies stellte sich aber als hoffnungsloses Unterfangen heraus. Wenige Tage nach der Sitzung des Sicherheitsrats wurde die Währung daher freigegeben, woraufhin die Lira innerhalb eines Tages einen Drittel an Wert verlor. Die Lebenshaltungskosten des stark importabhängigen Landes schnellten hoch, ohne dass im Gegenzug die in Lira bezahlten Löhne stiegen; Massenproteste waren die Folge.
Die zerstrittene Kaste der Politiker war diskreditiert. In der Stunde der grössten Not suchte daher auch die Türkei den Rat eines unabhängigen Technokraten. Ähnlich wie Italien jüngst Rückgriff auf Mario Monti und Griechenland auf Loukas Papadimos nahm, war es auch in der Türkei ein erfahrener Ökonom, auf dem die Hoffnungen ruhten, nämlich Kemal Dervis, damals ein Vizepräsident der Weltbank. In der Rolle eines Superministers, dem die Wirtschafts- und Geldpolitik oblag, lancierte Dervis ein vom Internationalen Währungsfonds (IMF) unterstütztes Reformprogramm. Dem international anerkannten Ökonomen kam dabei zugute, dass er mit der Feinmechanik der Bretton-Woods-Institutionen in Washington, wo er 24 Jahre lang gearbeitet hatte, bestens vertraut war.
Stunde der Technokraten
Anfänglich liebäugelten zunächst auch Dervis und sein Team mit der Idee einer unfreiwilligen Schuldensanierung, also mit der Option eines Zahlungsausfalles. Da die ausstehenden Staatsschulden aber zu über 60% von heimischen Banken gehalten wurden, hätte ein solcher Schritt die inländische Wirtschaft noch stärker in Mitleidenschaft gezogen. Als Alternative blieb somit nur ein Engerschnallen des Gürtels, in enger Kooperation mit dem IMF. Neben rigorosen Ausgabenkürzungen und einer Forcierung von Privatisierungen sah das Programm auch eine Restrukturierung und Rekapitalisierung des durch Staatseingriffe verzerrten Banksektors vor. Auch die Zentralbank wurde von politischer Einflussnahme befreit und auf die Verfolgung eines Inflationsziels (Inflation Targeting) verpflichtet.
Zügig umgesetzte Vorgaben
Zwar stand im Falle Griechenlands der Banksektor, der zuvor recht solid gewirtschaftet hatte, nicht am Anfang der Krise. Fiskalpolitisch unterschied sich das Reformprogramm der Türkei aber nur unwesentlich von den derzeitigen Forderungen und Vorschlägen der Troika (Europäische Kommission, Europäische Zentralbank, IMF) an Griechenland. Einen massgeblichen Unterschied gibt es dennoch: In der Türkei wurden die Vorgaben zügig umgesetzt. Und dies, obschon die kurzfristigen sozialen Kosten auch in der Türkei sehr hoch waren: Das Bruttoinlandprodukt (BIP) brach im Jahr 2001 um 6% ein, eine Million Menschen verloren ihre Stelle, der tägliche Einkauf verteuerte sich explosionsartig, und im Banksektor, wo Dutzende von Instituten kollabierten, schmolz die Zahl der Angestellten zwischen den Jahren 2000 und 2002 von über 170 000 auf 120 000.
So tief der Fall war, so rasch folgte der Aufschwung: Bereits im Jahr 2002 expandierte die Wirtschaft wieder, und seither wächst das Land im Durchschnitt um beeindruckende 5,3% pro Jahr. Schon im Jahr 2004 konnten ein Überschuss von 7% des BIP im primären Haushalt, also ohne Berücksichtigung des Zinsdienstes, und ein praktisch ausgeglichener Staatshaushalt verbucht werden. Die Inflation reduzierte sich dank unabhängiger und glaubwürdiger Geldpolitik von 70% jährlich auf einen einstelligen Prozentwert, und der öffentliche Schuldenstand war drei Jahre nach seinem Höchstwert im Jahr 2001 um 30 Prozentpunkte des BIP gefallen. Das Programm, in dessen Rahmen sich Ankara über zwei Jahre einen Betrag auslieh, der 14% des BIP entsprach, war ein Erfolg – auch für den IMF. Schon im Jahr 2008 wurde der letzte Dollar des Kredits an Washington zurückbezahlt. «Fiskalpolitische Disziplin hat die Türkei gerettet», bilanziert Özlem Derici, Ökonomin bei Erste Securities Istanbul. Die Stabilisierung der Staatsfinanzen sei primär über Ausgabenkürzungen und eine massvolle Lohnpolitik gelungen. Auf der Einnahmenseite spülte derweil der Verkauf von Staatsbeteiligungen rund 30 Mrd. $ in die Kasse.
Freie und agile Wirtschaft
Zudem machten 19 Gesetze zu Strukturreformen die Wirtschaft, die zuvor in hohem Mass durch Monopole und Staatsdirigismus geprägt war, freier und agiler. Auch das Dauerproblem der Steuerhinterziehung wurde angepackt: Die 2002 an die Regierungsmacht gewählte AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nahm die Konditionalitäten des IMF als willkommenen Grund, um Firmen und Privatpersonen, deren unlautere Steuerpraktiken zuvor von diversen Regierungen stillschweigend geduldet worden waren, enger an die Kandare zu nehmen.
Eine ausgabenseitige Haushaltskonsolidierung, ein Zurückbinden des Staates, eine Entschlackung überregulierter Branchen und eine effizientere Steuereintreibung stünden auch Griechenland gut an. Ein Vorbild nehmen könnte man sich zudem am Unternehmergeist der «anatolischen Tiger». Diese im vermeintlichen Hinterland der Türkei spriessenden Klein- und Mittelbetriebe, die als Motoren des türkischen Wirtschaftswunders gelten, konnten vom Staat während Jahrzehnten keine grosse Unterstützung erwarten, da sich Ankara eher dem Aufbau von Grossindustrien verpflichtet fühlte. Auf sich allein gestellt, setzte man statt auf äussere Alimentierung auf innere Stärken – und zeigt sich bis heute sehr staatsskeptisch. In Griechenland hingegen scheint der stete Zustrom milliardenschwerer Subventionen aus Athen oder Brüssel die weitverbreitete Staatsgläubigkeit perpetuiert und die private Eigeninitiative gleichsam erstickt zu haben.
Eine weitere Lektion des türkischen Fallbeispiels ist der hohe Wert einer eigenständigen Geld- und Zinspolitik. So verdankte die Türkei ihre rasche Genesung nicht nur einer jungen Bevölkerung, einer (im Unterschied zu Griechenland) intakten industriellen Basis, einem «externen Anker» in Form des IMF und des EU-Beitritts-Prozesses sowie einer seit 2002 ungewohnt hohen politischen Stabilität im Rahmen der Einparteienregierung der AKP. Essenziell war auch die Möglichkeit, über eine Währungsabwertung die Wettbewerbskraft zu stärken – eine Option, die Griechenland als Mitglied der Euro-Zone nicht offensteht. Wie meinte der Chefarchitekt des türkischen Reformprogramms, Kemal Dervis, doch unlängst in einem Zeitungsinterview: «Das Instrument des Wechselkurses ist ein sehr gutes Instrument. Es aufzugeben, ist hart und benötigt ein hohes Mass an Disziplin; dies war wohl nicht nur Griechenland, sondern auch anderen Regierungen der Euro-Zone kaum bewusst.»
«Quelle der Inspiration»
Kein Zweifel: Das Korsett des Euro erschwert eine Kopie des türkischen Erfolgsmodells. Es entbindet Griechenland aber nicht von der Aufgabe, zur Stärkung der Wettbewerbskraft Reformen durchzuführen. Der türkische Minister für EU-Angelegenheiten, Egemen Bagis, meinte vor kurzem am World Economic Forum in Istanbul, die Türkei wisse sehr wohl, was es heisse, durch harte Zeiten zu gehen. Doch mit fiskalischer und politischer Stabilität habe man es geschafft, nach der Krise von 2001 zur Volkswirtschaft mit dem europaweit höchsten Wachstum aufzusteigen. «Wenn wir das können, sollten das auch Staaten der EU schaffen. Alles, was es braucht, ist Entschlossenheit!» Die Türkei – von Bagis als «Quelle der Inspiration» empfohlen, von der EU seit Jahren als Schmuddelkind im Warteraum der Union behandelt – gibt sich selbstbewusst. Der Stolz ist berechtigt, nicht nur mit Blick auf das westliche Nachbarland.

http://www.nzz.ch/aktuell/wirtschaft/uebersicht/was-griechenland-von-der-tuerkei-lernen-kann-1.17273792

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