Ein Brief an 400 Jahre spaeter

Ein Bauingenieur, der zu den Verantwortlichen des Unternehmens gehörte, die die Restaurierung der Şehzadebaşı-Moschee in den 1990er Jahren durchführte, berichtet im Fernsehen von einem Vorfall, der sich bei den Restaurationsarbeiten an der Moschee ergab.

Es gab hier und da Verfallserscheinungen an den Steinen, die die Bögen der Tore an der Mauer bildeten, die den Garten der Moschee umgab. Die Erneuerung dieser Bögen war Teil des Restaurationsprogramms. Wir hatten an der Fakultät für Bauingenieurswesen in der Theorie gelernt, wie solche Bögen gebaut werden, aber wir hatten keine praktische Erfahrung mit Steinbögen. Wir versammelten uns mit den Fachleuten, um zu klären, wie wir diese Bögen restaurieren würden. Als Ergebnis beschlossen wir, den Bogen mit einer von unten angeschlagenen hölzernen Schablone als Stütze zu versehen. Nachher wollten wir den Bogen langsam abbauen und unsere Bautechniker sollten sich Notizen machen, die wir beim Wiederaufbau nutzen wollten.

Wir haben die Schablone gemacht.

Mit dem Abbau haben wir an dem Schlüsselstein (kilit taşı?)  angefangen. Als wir den Stein von seinem Platz nahmen, stellten wir überrascht fest, dass an dem Verbindungspunkt der zwei Steine eine Glasflasche in einen zylindrische Freiraum platziert war.

In der Flasche befand sich ein zusammengefaltetes weißes Blatt Papier. Wir haben die Flasche geöffnet und uns das Papier angesehen. Dort stand etwas auf Osmanisch. Sofort haben wir einen Fachmann herbeigeholt und ihn den Text lesen lassen. Dies war ein Brief und er war vom Baumeister Sinan persönlich geschrieben. Er lautete wie folgt:

“Die Lebensdauer der Steine, die diesen Bogen bilden, liegt bei ungefähr 400 Jahren. Da nach einer gewissen Zeit, diese Steine verfallen werden, werdet ihr diesen Bogen erneuern wollen. Und da sich höchstwahrscheinlich die Bautechniken verändern werden, werdet ihr nicht wissen, wie ihr den Bogen wiedererrichten sollt. Diesen Brief schreibe ich an euch, damit ihr wisst, wie ihr den Bogen wieder erbauen müsst.”

Nachdem der große Sinan seinen Brief mit diesen Worten begonnen hatte, erläuterte er, woher aus Anatolien die Steine für den Bogen gebracht worden waren, und fuhr mit Erklärungen fort und beschrieb in detaillierter Form den Bau des Bogens.

Dieser Brief ist ein übermenschliches Beispiel für das Bestreben, dass ein Mensch an den Tag legen kann, damit sein Werk unsterblich bleibt. Der Glanz dieses Briefes liegt in seinem hohen Bildungsgrad, der ihn wissen ließ, dass man auch in modernen Zeitaltern über das Lebensalter eines Steins Bescheid wissen würde, dass er wusste, dass sich die Bautechniken verändern würden, dass er Papier und Tinte benutzte, die 400 Jahre überdauern würden. Dieses hohe Bildungsniveau des großen Meisters war eine der  nicht nachahmbaren Eigenarten des Baumeisters. Aber wohl grösser noch als dieses so schwer zu erlangende Wissen ist das Verantwortungsbewusstsein, für 400 Jahre später eine Lösung zu entwickeln.

http://de.wikipedia.org/wiki/Sinan

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