Der furchtlose Ritter ist gegangen

Vergangene Woche vollzog sich in der Türkei ein bedeutsamer personeller Wechsel, der außerhalb des Landes fast gar nicht wahrgenommen wurde, aber für die Zukunft der türkischen Demokratie erhebliche Folgen haben kann. Ich meine die Pensionierung des verdienten Verfassungsgerichtspräsidenten Haşim Kılıç,  eines Mannes, der es in wichtigen Rechtsfragen wagte, dem übermächtigen früheren Ministerpräsidenten und jetzigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan die Stirn zu bieten, wenn es ihm nötig erschien. Die folgende Würdigung ist zu lang, um in unsere gedruckten Blätter zu passen, deshalb nutze ich hier die Form, die der Blog bietet.

Der Affront

Diese Rede hallte lange nach. Als Haşim Kılıç im Juni vergangenen Jahres seine Ansprache beendet hatte und der Beifall aufbrandete, stand der damalige türkische Ministerpräsident Erdoğan abrupt auf und verließ den Saal. Offen wie nie zuvor hatte der Verfassungsgerichtspräsident Kılıç den Regierungschef bei der Feier zum 52. Jahrestag des obersten türkischen Gerichts für dessen Eingriffe in die Unabhängigkeit der Justiz kritisiert.

Kılıç warf Erdoğan eine „Korruption des Gewissens“ vor und bezichtigte ihn vor laufenden Kameras, dass er die Justiz bevormunden und zur Rache an politischen Gegnern instrumentalisieren wolle: „In einem Rechtsstaat arbeiten Gerichte weder auf Befehl, noch werden sie durch Freundschaften oder Feindschaften bestimmt.“ Ebenso direkt auf Erdogan zielte der Satz: „Dem Verfassungsgericht vorzuwerfen, eine politische Agenda zu verfolgen oder es unpatriotisch zu nennen, ist eine seichte Kritik.“

Haşim Kılıç, der Mann, der Erdoğan zum Verlassen des Saals veranlasste, ist seit vergangenem Dienstag nicht mehr der oberste Richter der Türkei, da er sich nach den verfassungsmäßig möglichen zwei vierjährigen Amtszeiten mit 65 Jahren in den verdienten Ruhestand verabschiedete. Damit endet eine Ära, und es beginnt eine neue in der türkischen Justiz, von der man noch nicht weiß, was sie bringen wird. Kılıç, der einst als Aufgabe des Verfassungsgerichts definierte, „Menschenrechte und Freiheiten auszuweiten“, ist jetzt Geschichte. Sein von der Mehrheit der Verfassungsrichter gewählter Nachfolger heißt ab März Zühtü Arslan, den der frühere Staatspräsident Abdullah Gül in das 17-köpfige Gremium berufen hatte.

Arslan ist ein angesehener Jurist, ein ausgewiesener Liberaler, der trotzdem als „Mann Erdogans“ bezeichnet wurde. Es wird sich zeigen, ob er die Linie seines Vorgängers als Wahrer des Rechtsstaates weiterführen – oder sich, wie es manche Stimmen befürchten, der Stimme des mächtigen Staatspräsidenten unterordnen wird. Sicher ist nur eines: Haşim Kılıç, der eigentlich kein Jurist, sondern Wirtschaftswissenschaftler ist und fließend Deutsch spricht, wird der Türkei fehlen.

Mit seiner unerhörten Rede reagierte der Richter im vergangenen Juni auf Erdoğans Kritik an Urteilen, mit denen das Verfassungsgericht mehrere Gesetze der Regierung als verfassungswidrig aufgehoben hatte. Kılıç beendete unter anderem die im März 2014 verfügte Sperre des Internet-Kurznachrichtendienstes Twitter, weil das von rund 13 Millionen Türken genutzte Medium wichtig für die Meinungsfreiheit sei und daher in einer demokratischen Gesellschaft nicht blockiert werden dürfe.

Der Machtkampf

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