TIGERSTAAT AM BOSPORUS

Die Türkei zwischen Regionalmacht und EU-Bewerber

Von Steffen Wurzel und Wolfgang Labuhn

“Die Türkei ist nicht mehr der kranke Mann am Bosporus”, so die Einschätzung eines türkischen Unternehmers aus Berlin. Längst hat sich der “kranke Mann” zum “anatolischen Tiger” entwickelt. Ein Ende des Wirtschaftswachstums ist nicht in Sicht. Ein Beitritt in die EU allerdings auch nicht.

“Privilegierte Partnerschaft für die Türkei, aber keine volle Mitgliedschaft der Türkei!”

“Wer der Türkei heute vorschnell die Tür vor der Nase zuschlägt, der verpasst eine geschichtliche Chance.”

Zwei Blickwinkel, ein Thema. Wie umgehen mit dem EU-Bewerber Türkei? In der Bundesregierung verlaufen die Meinungen dazu so unterschiedlich, wie in der gesamten Bundesrepublik.
Was würde Europa verpassen, wenn die Türkei kein vollwertiges Mitglied der Europäischen Union würde?

Ökonomisch hat die Türkei die Argumente längst auf ihrer Seite. Bis Ende der 90er-Jahre passte auf die damals marode Wirtschaft des Landes die berühmte Bezeichnung des “kranken Mannes am Bosporus”. Inzwischen haben Wirtschaftsexperten einige andere klangvolle Bezeichnungen für die Türkei gefunden: “Anatolischer Tiger” lautet eine, oder auch “das China Europas”. Der Vergleich der beiden Staaten liegt auf der Hand: Wie in China boomt in der Türkei die Wirtschaft, die jüngste weltweite Wirtschaftskrise ging so gut wie spurlos an ihr vorbei. Ein Ende des Wachstums der türkischen Wirtschaft ist – wie in China – nicht in Sicht. Marc Landau von der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer AHK in Istanbul:

“Die Türkei gehört ja seit einiger Zeit schon zu den zwanzig größten Volkswirtschaften der Erde. Sie hat Wachstumsraten gehabt, die mit denen von China nicht nur vergleichbar sind, sondern etwa auf dem gleichen Niveau liegen, also über 10 Prozent im ersten Halbjahr. Der wirtschaftliche Aufschwung dauert nun mittlerweile fast das ganze Jahrzehnt an und die Prämissen sind nach meinem Erachten gut, dass es auch in der gleichen Richtung weitergehen wird. Also der Vergleich liegt auf der Hand.”

Die Zahlen, von denen der Geschäftsführer der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer spricht, sind in der Tat beeindruckend. Die Wirtschaft des Landes ist im ersten Quartal 2010 um 11,7 Prozent und im zweiten um 10,3 Prozent gewachsen. Zum Vergleich: In Deutschland jubelt man schon über eine Zwei vor dem Komma.

In Sachen Wirtschaftswachstum hat die Türkei in den vergangenen Jahren die meisten anderen Industrie- und Schwellenländer überholt. Neben dem Tourismus sind die Bereiche Bauwesen, Textilien und Unterhaltungselektronik die Branchen, mit denen die türkische Wirtschaft kräftig Geld verdient. Nirgendwo in Europa laufen mehr DVD-Spieler und Fernsehgeräte vom Band als in der Türkei. Und dann ist da noch der Automobilsektor. Immerhin der dritt-größte des Kontinents. Unter anderem produzieren Renault, Fiat und Nissan in der Türkei.

Nicht nur die Wachstumsraten des Landes sind beeindruckend, auch beim zweiten entscheidenden Kennzeichen für eine robuste Wirtschaft hat die Türkei aufgeholt: bei der Stabilität der Währung. Anfang dieser Woche wurden die Zahlen für das zurückliegende Jahr vorgestellt:
Die Inflationsrate lag demnach bei 6,4 Prozent. Aus Sicht vieler türkischer Wirtschaftsexperten ist das geradezu sensationell: ‘So niedrig wie seit 41 Jahren nicht mehr! Trotz der Preistreiber Benzin, Alkohol und Fleisch.’ jubelten am Dienstag die Wirtschaftszeitungen des Landes. Zur Erinnerung: Noch vor 16 Jahren lag die Inflationsrate bei mehr als 120 Prozent, vor zehn Jahren immerhin noch bei gut 70 Prozent.

Die Gründe für den türkischen Wirtschaftsboom sind vielfältig. Am häufigsten werden die Reformen des vergangenen Jahrzehnts genannt. Nach dem Beinah-Zusammenbruch der türkischen Wirtschaft in den Jahren 2000 und 2001 wechselte mit dem damaligen Vizepräsidenten der Weltbank, mit Kemal Derviş, ein ausgewiesener und unabhängiger Finanzfachmann ins türkische Kabinett. Derviş krempelte vor allem den Bankensektor des Landes um. Dutzende marode Institute wurden geschlossen, die Übriggebliebenen mussten die Eigenkapitalquote erhöhen und sich von riskanten Geschäftsfeldern trennen. Hakan Özenen, Wirtschaftskolumnist der Zeitung “Haber Türk”:

“Der Reform des Bankenwesens ist es zu verdanken, dass die türkischen Finanzmärkte während der weltweiten Finanzkrise relativ ungeschoren davongekommen sind. Und der stabile Finanzsektor hat der Türkei auch aus der Krise heraus geholfen. Der türkische Finanzsektor war und ist die stärkste Stütze des hiesigen Marktes. Wenn wir uns mal den Konsum-Boom des Jahres 2010 anschauen: Autos, Immobilien, das verkauft sich alles wieder bestens. Und das nur, weil das Finanzwesen den realen Markt weiterhin mit relativ günstigen Krediten versorgen und die Nachfrage finanzieren konnte.”

Eine Baustelle am Stadtrand von Kayseri. In einigen Wochen soll hier eine neue Möbelfabrik ihre Produktion aufnehmen.

Kayseri liegt ziemlich genau in der Mitte der Türkei. In den 80er-Jahren lebten hier gut 250.000 Menschen. Heute sind es fast eine Million. Die Region Kayseri hat sich zu einem der wichtigsten Industrie- und Handelszentren des Landes entwickelt. In einem riesigen Industriegebiet rund um die Stadt werden vor allem Möbel, Haushaltswaren und Lebensmittel hergestellt.

Kayseri ist eine der anatolischen Boomtowns, die von Türken immer dann als Beispiel genannt werden, wenn Besucher aus Mitteleuropa fragen, ob es außerhalb Istanbuls, im asiatischen Teil der Türkei, noch mehr gebe, als nur plattes anatolisches Land mit armen Bauern und rückständigen Ziegenhirten.

“Es ist nicht so, dass die türkische Wirtschaft nur aus den großen Konzernen und Fabriken in Istanbul besteht. Die Türkei ist ein Land mit vielen Industriezentren, die über das ganze Land verteilt sind. In Bursa zum Beispiel gibt es eine riesige Industrie. Oder in Manisa, dort investieren viele deutsche Firmen. Genauso wie in Denizli und in Gaziantep, im Osten des Landes. Dort gibt es eine Menge kleiner und mittelständischer Betriebe.”

Ebenso wie in Kayseri. Der große Vorteil für Firmen, die dort produzieren, und nicht im Ballungsraum Istanbul: Sie sind näher dran an den immer wichtiger werdenden Märkten in den südöstlich gelegenen Nachbarstaaten der Türkei: Irak, Iran und Syrien. Einige Beobachter in Deutschland sehen den schwunghaft verlaufenden Handel türkischer Firmen mit diesen Nahost-Staaten mehr und mehr kritisch. Aus Sicht der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer handelt es sich um eine ganz natürliche Entwicklung. Marc Landau:

“Ich könnte mir gut vorstellen, dass Deutschland mittelbar auch von dieser Entwicklung mit profitiert, der türkische Handel im Irak ist ungefähr zehnmal so groß wie der deutsche Handel im Irak. Ich kann mir sehr gut vorstellen, ohne es genau zu wissen, dass eben doch bei den türkischen Exporten in den Irak auch durchaus deutsche Waren eine Rolle spielen, gilt genau so auch für andere Nachbarländer.”

Die These, vor allem einiger konservativer Politiker in der EU, die Türkei bewege sich langsam aber sicher weg von Europa und wende sich stattdessen dem Nahen Osten zu – wirtschaftlich und politisch – hält der Geschäftsführer des Deutsch-Türkischen Industrieverbands für abwegig.

“Die Tatsache, dass die Türkei sich eben auch in andere Richtungen orientiert, ist ja zumindest legitim und widerspricht auch nicht per se unseren Interessen. Das ist eine Entwicklung, die im Gange ist. Das ist keine Entwicklung weg von Europa und alternativ irgendwo anders hin, sondern etwas Komplementäres. Die Türkei sucht sich also ergänzende wirtschaftliche Möglichkeiten, die sie wohl auch mir ziemlichen Erfolg findet.”

Der Wirtschaftskolumnist Hakan Özenen ergänzt:

“Die Türkei möchte auf diesen Märkten aktiv sein, das ist nur natürlich. Politisch gesehen gibt es nichts, was sich die Türkei aus diesen Ländern, in deren Richtung sie sich angeblich bewegt, importieren könnte. Kein politisches oder soziales System. Kurzum: Die Türkei wird überall dort Absatzmärkte suchen, wo sie meint, dass es sich für die türkische Wirtschaft lohnt. Sei es nun Brasilien, Malaysia oder eben der Nahost-Raum.”

Nach wie vor ist allerdings Deutschland der mit Abstand wichtigste Handelspartner der türkischen Wirtschaft. Das Potenzial der beidseitigen Wirtschafts-Zusammenarbeit ist aber noch lange nicht ausgereizt, sagen Wirtschaftsfachleute beider Länder. Nachholbedarf gebe es vor allem noch bei türkischen Investments in Deutschland. Nach Ansicht der deutsch-türkischen Handelskammer steht diesen Investments vor allem eines im Wege: Die strenge Visa-Politik im Schengen-Raum, und ganz besonders die Visa-Politik Deutschlands.

Während deutsche Geschäftsreisende spontan in die Türkei fliegen können – Personalausweis genügt – ist es für türkische Geschäftsleute genau umgekehrt: Spontane Reisen nach Deutschland sind unmöglich, zumindest für die, die kein Dauervisum im Pass kleben haben. Und die Ausstellung eines Visums durch die deutschen Konsularstellen in der Türkei dauert in der Regel. Marc Landau von der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer [http://www.dtr-ihk.de/] in Istanbul sieht darin ein großes Hemmnis für den wirtschaftlichen Austausch zwischen beiden Ländern.

“Die Hauptkritikpunkte sind, dass man doch einen sehr, sehr erheblichen – wenn nicht sogar einen unverhältnismäßig großen – bürokratischen Aufwand zu bewältigen hat. Man muss eine Vielzahl von Dokumenten beibringen, um einen Antrag zu stellen, dann muss man warten, um überhaupt den Antrag stellen zu können. Und das eben alles mit einer im Vergleich zu anderen – auch anderen EU-Ländern – sehr hohe Ablehnungsquote gibt.”

Unter türkischen Geschäftsleuten ist die Visa-Problematik seit einigen Wochen wieder vermehrt Thema. Anlass ist die Aufhebung der Visums-Pflicht für Reisende aus Albanien und Bosnien. Seit Mitte Dezember dürften Bürger beider Staaten ohne Visum in den Schengen-Raum einreisen, auch nach Deutschland. Und das, obwohl beide Staaten im Gegensatz zur Türkei nicht einmal offizielle Beitrittskandidaten der EU seien, so der Vorwurf, den man unter türkischen Geschäftsleuten oft hört. Der Diplom-Ingenieur Nihat Sorgec etwa wird wütend, wenn er an einen Vorfall der letzten Zeit denkt. Die Türkisch-Deutsche Industrie- und Handelskammer in Berlin, deren Vizepräsident er bis vor Kurzem war, hatte zu einer Vorstandssitzung unter Beteiligung regionaler IHK-Präsidenten aus der Türkei eingeladen. Auf dem Visum eines von ihnen fehlten beim Namen die Pünktchen auf dem Buchstaben U, die es zum Ü gemacht hätten:

“Da hat man ihn eingesperrt, und er sollte mit der nächsten Maschine zurückfliegen. Da haben wir alle Hebel in Bewegung gesetzt, weil das ein Skandal gewesen wäre. Das ist ein Präsident einer Region, die sehr, sehr wichtig ist. Das ist leider Gottes eine sehr, sehr peinliche Angelegenheit, wenn anerkannte Unternehmer aus der Türkei hier auf Flughäfen wie Wirtschaftsflüchtlinge diskriminiert werden.”

Nihat Sorgec ist geschäftsführender Gesellschafter der Berliner BWK GmbH, des Bildungswerkes in Kreuzberg, das er selbst gegründet hat. Ein großer Teil des BWK-Bildungsangebotes richtet sich an benachteiligte Jugendliche mit überwiegend türkischem Migrationshintergrund und legt dabei Wert auf Bilingualität. Die ersten Absolventen solcher Kurse arbeiten auch schon für deutsche Unternehmen in der Türkei und umgekehrt. Völlig unverständlich ist es daher für Nihat Sorgec, dass es gleichzeitig auf der Ebene der förmlichen Wirtschaftskontakte zwischen Deutschland und der Türkei weiterhin bürokratische Hürden wie Probleme bei der Visumsbeschaffung gibt. Während die Wirtschaft bemüht sei, Brücken zwischen beiden Ländern zu bauen, hinke die deutsche Politik hinterher:

Dabei wird die Türkei wegen der fast 3 Millionen türkischstämmigen Menschen in Deutschland, von denen schon etwa 900.000 einen deutschen Pass haben, zu einem immer wichtigeren Partner Deutschlands, nicht nur wegen des ansehnlichen Wirtschaftswachstums, die Türkei ist auch ein sehr junges Land. Das Durchschnittsalter liegt bei 28 Jahren, mehr als die Hälfte der 72 Millionen Türken ist jünger als 34 Jahre – für ausländische Investoren ein großer Markt mit jungen Konsumenten.

Deutsche Unternehmen haben diese Chance längst erkannt. Rund 4000 Firmen aus Deutschland sind in der Türkei aktiv und verschaffen Deutschland damit bei den ausländischen Direktinvestitionen einen Spitzenplatz in der Türkei. Hauptlieferanten aber waren 2010 Russland und China, Deutschland rutschte auf Platz drei ab und könnte Gefahr laufen, seinen Rang als wichtigster Handelspartner der Türkei zu verlieren. Denn, so der Berliner Unternehmer Nihat Sorgec:

“Ich bin nicht der Meinung, dass Deutschland die Potenziale der Türkei auf allen Ebenen ausreichend nutzt. Ich habe den Eindruck, dass Deutschland die Türkei immer noch falsch interpretiert und falsch einschätzt. Die Türkei ist nicht mehr der kranke Mann am Bosporus.”

Und: Die Türkei wird immer mehr zu einer bedeutenden Regionalmacht. Ankara hatte bereits indirekte Friedensgespräche zwischen Israel und Syrien vermittelt, bis der israelische Angriff auf den Gaza-Hilfskonvoi Ende Mai vergangenen Jahres, bei dem 9 türkische Aktivisten starben, diese Bemühungen beendete.

Nicht ohne Grund findet außerdem die nächste Gesprächsrunde im Atomstreit mit dem Iran Ende Januar in Istanbul statt. Dass sowohl die Machthaber in Teheran als auch die 5 Vetomächte im UN-Sicherheitsrat und Deutschland mit diesem Tagungsort einverstanden waren, beweist das gewachsene internationale Gewicht der Türkei, die sich zunehmend in einer Mittlerrolle zwischen dem Westen und schwierigen Ländern der Region wie Syrien und dem Iran sieht – und mehr als das. Der türkische Politikwissenschaftler Hüseyin Bagci lehrt zurzeit als Gastprofessor für Internationale Beziehungen an der Berliner Humboldt-Universität und erläutert, dass – mehr denn je – Deutschland und die Türkei gemeinsame wirtschaftliche und politische Interessen verbänden:

“Das heißt, ein exportorientiertes Deutschland und ein Handelsstaat Türkei werden neue, gemeinsame Interessen entwickeln, was zum Beispiel Russland angeht. Wir reden bereits von einer ungeschriebenen Allianz zwischen der Türkei, Deutschland und Russland – deutsche Technologie, russische natürliche Ressourcen und türkische Arbeitskraft.”

Getrübt werden diese Perspektiven aus türkischer Sicht durch die Haltung der schwarzgelben Bundesregierung zu einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union, der die FDP offenbar aufgeschlossener gegenübersteht als die Union. Außenminister Guido Westerwelle gab im Oktober in einer Grundsatzrede vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik zu bedenken:

“Wer der Türkei heute vorschnell die Tür vor der Nase zuschlägt, der verpasst eine geschichtliche Chance. Für mich gilt auch im Umgang mit der Türkei ganz klar: Pacta sunt servanda!. Unser Wort gilt, wir halten unsere Versprechen. …. Und deshalb arbeiten wir mit ganzer Kraft daran, dass die Verhandlungen gleichermaßen ehrlich wie ergebnisoffen geführt werden und nicht in einer Sackgasse stecken bleiben. Wir reden über ein stolzes, dynamisches, wichtiges Land, an dessen europäischer Ausrichtung uns viel liegt und das in der Region an Kraft und Ausstrahlung gewinnt.”

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hingegen akzeptiert zwar die Fortsetzung der zwischen der EU und der Türkei laufenden förmlichen Beitrittsverhandlungen, nicht aber deren Ergebnisoffenheit, wie sie zum Beispiel im Europawahlkampf 2009 unmissverständlich zum Ausdruck brachte:

“Es hat keinen Sinn, wenn wir immer mehr Mitglieder werden, aber nichts mehr entscheiden können. Wir können nicht jeden in Europa aufnehmen als Vollmitglied. Und deshalb heißt unsere gemeinsame Position: Privilegierte Partnerschaft für die Türkei, aber keine volle Mitgliedschaft der Türkei!”

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Ruprecht Polenz, CDU, zeigt Verständnis für diese Haltung der Kanzlerin:

“Die Bundesregierung – so steht es im Koalitionsvertrag mit der FDP, so stand es aber auch im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD – begleitet diese Verhandlungen mit dem Ziel des Beitritts. Für den Fall, dass dieses Ziel nicht erreicht wird, soll die Türkei möglichst eng an die Europäische Union angebunden werden. Und wir wollen die Türkei fair behandeln. Das tut die Bundeskanzlerin. Dass sie als Parteivorsitzende den Standpunkt der CDU vertritt, die für eine privilegierte Partnerschaft ist, steht auf einem anderen Blatt. Aber als Kanzlerin hat sie konsequenterweise diesen Koalitionsbeschluss immer auch zum Maßstab ihrer Politik gegenüber der Türkei gemacht.”

Der Türkei-Kenner Polenz vertritt allerdings einen von der CDU-Mehrheitsmeinung abweichenden Standpunkt:

“Ich bin dafür, dass die Türkei eine faire Chance bekommt, auch Vollmitglied in der Europäischen Union zu werden – vorausgesetzt natürlich, dass sie die Beitrittskriterien nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der gelebten Praxis erfüllt, also eine Demokratie, ein Rechtsstaat ist, der die Menschenrechte achtet, die Minderheiten schützt und der auch eine starke Wirtschaft mitbringt, die dem Wettbewerbsdruck in der Europäischen Union standhalten kann.”

Doch die Beitrittsverhandlungen sind ins Stocken geraten. Zum ersten Mal seit ihrer Aufnahme vor fünf Jahren konnte 2010 in einem Halbjahr kein neues Verhandlungskapitel eröffnet werden, in dem eigentlich über das Wettbewerbsrecht gesprochen werden sollte.

Deutschland, so Hyseyin Bagci, unterstütze die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei nur teilweise:

“Im bilateralen Sinne versucht Deutschland das zu machen, aber im Rahmen der Europäischen Union – leider nein, weil sehr viele Kapitel noch nicht eröffnet sind, von der Energie- bis zur gemeinsamen Transportpolitik, wo die Türkei doch sehr viel zu investieren hat. Wenn man diese Kapitel nicht eröffnet, dann werden die Chinesen oder die Russen und die anderen Länder natürlich reinkommen. Deswegen finde ich es schade, dass diese wirtschaftliche Weiterverbesserung der Türkei von der Europäischen Union nicht genug genutzt wird.”

Könnte sich die Türkei enttäuscht von Europa abwenden? Meinungsumfragen zeigen, dass mit wachsendem Wohlstand das Interesse der türkischen Bevölkerung an einer Mitgliedschaft deutlich sinkt. Der CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz bleibt dennoch optimistisch:

“In der Perspektive ist es für viele Nachbarländer der Türkei ganz wichtig, dass sich die Türkei verlässlich auf einem Reformkurs bewegt. Und dafür sind eben die Verhandlungen mit der Europäischen Union quasi die Leitplanken, dass man nicht vom richtigen Weg abkommt. Und das Ziel eines EU-Beitritts ist der Leuchtturm, der die Richtung angibt.”

Und damit könnte sich letztlich doch die arabische Weisheit bewahrheiten, die nach Meinung des Politologen Hüseyin Bagci auch auf den Prozess der Annäherung zwischen der EU und der Türkei anwendbar ist:

“Die Karawane zieht weiter, und die Hunde bellen – aber es läuft!”

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